Enthüllungen einer Autorin

Ein Blick hinter die Kulissen und auf die praktischen Fragen und Probleme des Schreibens.

Von Hanna ChristiansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hanna Christiansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit "Erinnern und Erfinden" legt die freischaffende Autorin und promovierte Anglistin Anna Mitgutsch ihre Vorlesungen, die sie im Rahmen der Grazer Poetik-Vorlesungen im Wintersemester 1998/99 gehalten hat, als Buch vor. In sechs Kapiteln setzt sie sich mit der Praxis des Schreibens auseinander. Einleitend geht sie der Frage nach, inwiefern nicht-autobiographisches Schreiben überhaupt möglich ist; ob nicht Erlebtes und Fiktives im Akt des Schreibens untrennbar miteinander verwoben werden und so erst der Eindruck von Authentizität entsteht. Dabei ist nicht jene überprüfbare autobiographische Authentizität gemeint, sondern die Fähigkeit des Autors, im Leser einen "seelischen Primärberührungseffekt" hervorzurufen.

Sylvia Plaths Gedichte dienen Mitgutsch hier als Beispiel. Mögen diese Ausführungen zum Schreiben einleuchten, kann ihre Auslassung, Autobiographien seien eine Marktstrategie zur Steigerung von Verkaufszahlen, nicht so überzeugen. Die seit langem rezipierten Ergebnisse Lejeunes zur Autobiographieforschung bezieht Mitgutsch in ihre Überlegungen nicht ein. Nach Lejeune schließt der Autor mit dem Leser entweder einen autobiographischen Pakt oder einen Romanpakt. In diesem klassischen Schema ist ein autobiographischer Pakt durch Übereinstimmung von Autor- und Protagonistennamen gekennzeichnet. Gleichwohl lassen sich aber auch Texte finden, in denen die Namen übereinstimmen, es Entsprechungen zwischen Biographie des Autors und Geschildertem gibt und Fiktionales dennoch anzutreffen ist oder sogar überwiegt. Eine Reflexion dieser neuen Gattungsspielarten, Hinweise auf die Dynamik der Gattung hätten die Ausführungen an dieser Stelle bereichert.

In den nachfolgenden Vorlesungen geht Mitgutsch einer Reihe von Fragen nach, die sie am Beispiel so unterschiedlicher Autorinnen und Autoren wie Virginia Woolf, Marlen Haushofer, Amos Oz, Nathaniel Hawthorne, Anne Sexton u.v.a. analysiert. Sie stellt z. B. die Frage nach der ethischen Verantwortung des Autors. Was darf er sich herausnehmen? Inwiefern ist z. B. Anne Sextons Veröffentlichung der intimen Beziehung zu ihrer Tochter in ihrer Lyrik ethisch vertretbar?

Im nächsten Kapitel erörtert sie die Grenzen der Sprache. Nach Mitgutsch ist der sprachliche Grenzbereich ein Faszinosum eines jeden Autors, über den nicht 'hinausgeschrieben' werden kann, an den sich Lyrikerinnen wie Christine Lavant aber mit hermetischen sprachlichen Bildern immer wieder annähern, ohne dabei auf den Dialog mit dem Leser völlig zu verzichten, wie es in den von Leo Navratil herausgegebenen Gedichten schizophrener Patienten der Fall ist.

Im vierten Kapitel geht sie von dem Problem aus, dass zwischen Autor und Leser Differenzen in der Auffassung bestehen können, was der "ideale Text" sei. Sie greift Adornos Diktum auf, dass Kunst irritieren und den öffentlichen Konsens in Frage stellen müsse. Mit einer solchen Position sieht sie allerdings das Dialogische der Kunst in Frage gestellt. Nach ihr kann der Autor den Rezipienten schon beim Schreiben, also dem Bemühen um einen "idealen Text", nicht völlig außer Acht lassen, sondern muss von vornherein die Möglichkeit eines gemeinsamen Codes schaffen. Die dennoch vorhandenen Grenzen dieses Bemühens drücken sich für sie in dem Zitat Ingeborg Bachmanns aus: "Gelingen kann ihm [dem Autor], im glücklichsten Fall zweierlei: zu repräsentieren, seine Zeit zu repräsentieren, und etwas zu repräsentieren, für das die Zeit noch nicht gekommen ist."

Die letzte Vorlesung widmet sich praktischen Problemen des Schreibens. Was ist ein guter Romananfang? Welche Erzählperspektiven bieten welche Vorzüge? Ist die Perspektive des Ich-Erzählers zu intim oder die des auktorialen Erzählers zu distanziert? Wie werden erzählte Zeit und chronologische Zeit dargestellt? Inwiefern emanzipieren sich Romanfiguren von ihrem Schöpfer und entwickeln ein Eigenleben? Wie werden die Orte der Handlung am besten eingeführt? Auch hier wählt Mitgutsch konkrete Literaturbeispiele aus, um ihre Überlegungen zu veranschaulichen und nachvollziehbar zu machen.

In dem abschließenden Exkurs verhandelt sie Romananfänge. Diese seien so etwas wie eine "Verkaufsstrategie". Der Leser entscheidet sich am Anfang, ob er ein Buch weiterlesen wird oder nicht. Allerdings garantiere ein guter erster Satz keine Qualität, entfalten einige Romane doch erst im Lauf der ersten Kapitel ihr ästhetisches Potential. In vier eigenen Entwürfen zu einem Romananfang gestattet Mitgutsch dem Leser einen Blick hinter die Kulissen. Sie begründet die Auswahl des von ihr favorisierten Anfangs, aber auch die Zurückweisung der anderen und lässt den Leser so an einem Entscheidungsprozeß teilhaben, welcher ihm sonst verwehrt bleibt.

Die von Mitgutsch gewählte Vorgehensweise, Probleme und Praktiken des Schreibens an konkreten Beispielen verschiedener Autorinnen und Autoren darzustellen, erweist sich als äußerst anschaulich. So wird die Lektüre ihrer gesammelten Poetik-Vorlesungen zu einem Lesevergnügen, welches darüber hinaus auf die verschiedenen Texte der vorgestellten Autoren und Autorinnen neugierig macht und die Lust am Weiterlesen weckt.

Titelbild

Anna Mitgutsch: Erinnern und Erfinden. Grazer Poetik-Vorlesung.
Literaturverlag Droschl, Graz 1999.
160 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 385420521X

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