Dunkle Sätze, abgeklärte Tagwelt

Botho Strauß beschwört "Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich"

Von Oliver van EssenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver van Essenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist ein wenig still geworden um Botho Strauß, seit er sich in die Uckermarck zurückgezogen hat. Der 1997 veröffentlichte Prosaband "Die Fehler des Kopisten" wirkt inzwischen wie die Nachbetrachtung zu einem Literaturstreit, bei dem der Autor immer gern das letzte Wort gehabt hätte. Der Rückzug aus dem Dauerfeuer der Öffentlichkeit in die auserwählte Heimat der Poesie war zwar immer ein Thema in Strauß' Schaffen. Selten hat er diesen Schritt jedoch selbst auch so konsequent vollzogen wie mit dem neuesten Erzählband.

"Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich" ist eine kunstvoll gestrickte Erzählung mit gleichnishaften Zügen. Es könnte sich um eine beinahe klassisch gebaute Dreiecksgeschichte handeln, die das ewige Spannungsverhältnis zwischen Verkennen und Wieder-Erkennen der Geschlechter zum Gegenstand hat.

Ein Strauß'sches Leib- und Magenthema, mögen sich treue Leser denken. Nicht zu Unrecht, doch mit der Umsetzung widerspricht der Autor eingespielten Erwartungen. Das beginnt mit einem dichten, spannungsreichen Auftakt. In wenigen Sätzen skizziert der Protagonist, wie ihn die Begegnung mit Alice schlagartig aus dem Alltag und seiner Beziehung zu Julia herausreißt: "Alice trat plötzlich aus einem Juweliergeschäft. Sie kam uns entgegen. Mir wurde eiskalt, das Herz schlug bis zum Hals. Sie sah mich dunkel an und grüßte nicht. Aber sie sah neben mir Julia freundlich an, und beide Frauen grüßten sich."

Wer ist diese Alice? Woher kennen sich die beiden Frauen? Wie lernt der Protagonist Alice kennen? Und vor allem: Was passiert nach der Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich? Fragen über Fragen. Gerade als es spannend wird, schweift der Protagonist ab und sorgt durch das Aufschieben der Antwort für zusätzliche Spannung. Elegant schert die Passage aus in die Schilderung äußerst intensiver Träume. Der Protagonist begegnet Alice, recht bedeutungsschwanger, in einer Kellergrotte, wo sie ihm dunkle Sätze zuraunt. Verbunden wird all dies mit Reflexionen des Erzählers über das Verhältnis von Wachen und Träumen, das sinnliche Wahrnehmen des Anderen im Schlaf und die Unmöglichkeit, ihn als solchen im wachen Zustand wiederzuerkennen.

Romantische Topoi aus dem Umkreis des Somnambulismus klingen an. Humorvoll distanziert wird die abgeklärte Tagwelt beschrieben. Der Leser erfährt so einiges über Julia, mehr noch über den Protagonisten. Man erlebt ihn als Globalisierungsverlierer, der sich ab und an in unheilvolle kulturkritische Diskussionen verstrickt, sonst aber ziemlich teilnahmslos wirkt.

Von da an wird die im ersten Drittel der Erzählung angelegte Problematik immer weiter entfaltet. Es beginnt eine labyrinthische Suche nach der Geliebten, die der Mann als seine verlorene Hälfte imaginiert. Wer diese Person ist, ob es sich bloß um ein Nebenprodukt der betrachtenden Erzählerphantasie handelt oder um eine auch außerhalb dieser Phantasie angesiedelte Person, bleibt unklar. Die Frage kann schon deshalb nicht beantwortet werden, weil die Unterscheidung real/imaginär durch das Medium der Poesie verschleiert wird.

Darin liegen Spannung und Stärke, gleichzeitig aber auch eine Schwäche der Erzählung begründet. Während der besondere Reiz dieser Konstellation im ständigen Schwanken zwischen Realität und Imagination besteht, verliert sich der Faden hier zusehends im Gespinst der Phantombilder. Neue Personen tauchen auf und verschwinden so unvermittelt, wie sie eingeführt werden. Literaturwissenschaftlich dürfte das Buch aufgrund der reichhaltigen intertextuellen Anspielungen, unter anderem auch auf die Vertreibung aus dem Paradies, sehr ergiebig sein.

Die anfängliche Spannung ist nach 100 Seiten verflogen, als gegen Ende ein Haken zum Anfang geschlagen wird. Der Leser erfährt dort allerdings nicht viel mehr, als was er am Anfang bereits ahnen konnte. Die Nacht - war es ein Traum oder ein Seitensprung? - mit Alice öffnete einen Raum für das authentische Wahrnehmen des Anderen, die Scheu und Demut gegenüber seiner Blöße. In ruhigen, eindringlichen, poetischen Bildern kreist die Erzählung dieses Thema ein.

Titelbild

Botho Strauß: Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
150 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446203575

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