Etappenziel Marienfelde

Julia Francks Roman "Lagerfeuer"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Günter Grass' "Krebsgang" boomt die literarische Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Geschichte. Anders als bei Tanja Dückers "Himmelskörper" und Ulla Hahns "Unscharfe Bilder" hat Julia Francks Blick in die Vergangenheit handfeste biografische Wurzeln. Die 33-jährige Autorin, die mit "Liebediener" und "Bauchlandung" schon respektable Erfolge feiern konnte, lebte Ende der siebziger Jahre neun Monate lang mit ihren Eltern im West-Berliner Notaufnahmelager Marienfelde.

Bevor die Figuren ihres Romans dort ankommen, haben sie schon einiges an Schikanen überstehen müssen. So wird die letzte Grenzkontrolle der DDR-Sicherheitskräfte für Nelly Senff zu einer psychischen Tortur. Trotz ihrer gültigen Ausreisepapiere wird sie von ihren Kindern getrennt, in dunklen, spartanisch eingerichteten Räumen wie eine Schwerkriminelle verhört und gedemütigt. Eine endlose Einsamkeit für Nelly, während ihr Fluchthelfer Gerd, der vorgibt, sie nach der Ausreise heiraten zu wollen, mit den Kindern im Auto wartet. Schutzlos ist sie der Willkür der Beamten ausgesetzt. Protest ist zwecklos, sie will nichts riskieren, schließlich wartet der vermeintlich goldene Westen.

Für die Übersiedler endet die erste Etappe in der Freiheit im Aufnahmelager, in kleinen muffigen Mehrbettzimmern ohne Intimsphäre - eine Menschenverwaltungsanstalt, in der nach Paragraphen und nicht nach individuellen Bedürfnissen gehandelt wird.

Der Schauspieler Hans Plischke, der vom Westen freigekauft wurde, lebt schon seit zwei Jahren in dieser bedrückenden Enge, hat ebensowenig den Sprung in die wirkliche Freiheit geschafft wie die aus Polen stammende ehemalige Musikerin Krystyna Jablonowska, die sich vom Westen die lebensrettende Operation ihres todkranken Bruders erhofft hatte.

Ziemlich rasch stellt sich Desillusionierung ein, regen sich Zweifel, ob das Abbrechen aller sozialen Brücken und der Gang in den unbekannten Westen wirklich der richtige Weg war. Die Verhöre gehen im Lager weiter, die westlichen Geheimdienste vermuten Stasi-Spione unter den Übersiedlern. "Sehen Sie, ein halbes Leben lang hat mich die Staatssicherheit befragt, heute sind sie dran. Mein Kopf ist so leer, das können Sie sich gar nicht vorstellen", entfährt es der frustrierten Nelly.

Etwas Abwechslung im tristen Lageralltag findet sie in einer Affäre mit dem CIA-Mitarbeiter John Bird. Die höchst unterschiedlichen, biografisch determinierten Interessen verhindern, dass es zu mehr als einigen sexuellen Abenteuern kommt: "Über das Verhältnis von so genannten Opfern und Tätern, Helden und Verrätern habe ich während der Arbeit am Buch immer wieder nachdenken müssen", bekannte die Autorin in einem Gespräch mit der Tageszeitung "Die Welt".

Julia Franck erzählt diesen Roman unaufgeregt und ohne Sentimentalität. Keine wehmütige Ostalgie, sondern die künstlerische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit hat ihr die Feder geführt. Es geht nicht um Leiden, nicht um fragwürdiges Märtyrertum und erst recht nicht um politische Schuldzuweisungen. Julia Franck beleuchtet - beinahe dokumentarisch - ein winziges Knäuel der jüngeren Geschichte, in dem sich unterschiedliche biografische Fäden verknotet haben - im Labyrinth des Notaufnahmelagers, einer Stätte zwischen Ost und West, zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen.

Am Ende wird im Lager Weihnachten gefeiert. Die Gans ist zäh, es riecht nach verschmortem Kunststoff, und zu allem Unglück fängt der Weihnachtsbaum noch Feuer. Wer möchte da nicht davonlaufen? Doch die Welt ist klein geworden, reicht zunächst nur bis zum Schlagbaum des Lagerareals. Ein wirkliches Zurück gibt es nicht mehr. Mit dieser Erkenntnis und einer ungewissen Zukunft vor Augen entlässt Julia Franck die Figuren aus ihrem bewegenden Roman.

Titelbild

Julia Franck: Lagerfeuer. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2003.
302 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3832178511

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