Ostalgie - die schöne, gute, wahre!

Claudia Rusch, Jahrgang 1971, erzählt Anekdoten von früher

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ostalgie, das wissen wir längst, lebt von der nett angeordneten Mischung von Gut und Böse in der vergangenen DDR. Systemkritik wechselt mit schönen Erinnerungen, wirklichen Idealen und der durch Alltagshumor verklärten Gewöhnlichkeit. Durch die harte Schule des maroden und intriganten Systems zu wahrer Menschlichkeit gereift, erscheinen die wenigen "echten" Bewohner der DDR bis aufs Blut ehrlich, tödlich liebenswert und moralisch integer. Ja, natürlich, hätte es funktioniert, wäre die DDR der bessere deutsche Staat gewesen.

Mittlerweile hat sich mit den 25 bis 35jährigen auch eine Generation zur Ostalgie gefunden, die sich als die letzten 'wahren' Ossis verstehen wollen. Sie stellen dem starren Staate ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen gegenüber - und das gilt sowohl für den 'untergegangenen' als auch für den 'kapitalistischen' deutschen Staat. In diesem Erleben des Westens und persönlichen Überleben des Ostens verortet sich auch Claudia Rusch mit ihrem Buch "Meine freie deutsche Jugend": "Kurz vor Toresschluss wurden Robert und ich Staatsbürger der DDR. [...] Wir waren die letzten echten Ossis. Und die ersten neuen Wessis." Willkommen, Frau Rusch, hier ist Ihr Begrüßungsgeld. Aber es ist wohl tatsächlich etwas dran an der Behauptung, die auch Wolfgang Hilbig im Nachwort aufstellt, "die Leute in der DDR seien erst nach der sogenannten Wende zu wirklichen DDR-Bürgern geworden". Ist es, dass man erst weiß, was man alles hätte machen können und wollen, wenn es endgültig weg ist?

Claudia Rusch, Berliner Autorin von Beruf, beweist mit ihren biographischen Erzählungen einmal mehr, dass sowohl im Osten als auch im Westen nicht alles schlecht, aber vieles auch nicht gut war. In 25 kleinen Geschichten wird vor allem eines deutlich, nämlich dass Rusch, ihre Familie und engen Freude wirklich gute Menschen gewesen sind, die wir alle gern kennen und lieben würden. Sie waren dabei, als der Aufruf "Schwerter zu Pflugscharen" erging. Dabei nickten sie sich gegenseitig zu: Ja, das ist richtig, aber bitte kein Pathos. Ein Augenzwinkern heißt Solidarität. Das gesunde Ossi-Verhältnis zur Nacktheit bestätigt sich beim "FKK am Mittelmehr". Kein Wunder, dass Rusch dann die Wiedervereinigung eher enttäuschend erlebte: "Das war das Ende. Montagsdemos, Neues Forum, Friedenswachen, alles umsonst. Kein reformierter Sozialismus. Die Mauer war gefallen und der Weg zu Aldi offen. Das war viel zu früh, das bedeutete Wiedervereinigung. Und die passte nicht in meinem Plan. Ich glaubte tapfer an eine eigenständige DDR."

Doch was heißt schon Eigenständigkeit, wenn Reisen kaum möglich ist, die berufliche Zukunft von der Partei beschlossen wird und der Konsum in der Imitation von Westprodukten besteht. So "versuchten sich die Genossen im Nachahmen von Nestlé-Produkten [...]. Bounty hieß Bon, Snickers Joker und Milky Way war Fetzer. Fetzer. Für wen hielten die uns? Diesen Namen muss sich irgendein Provinz-Funktionär im Vollrausch ausgedacht haben."

Die Stärken der Rusch'schen Erzählungen liegen in ihrem anekdotenhaften Humor und im Wiedererkennungseffekt: Genau so war es, sagen die einen, genau so haben wir uns das vorgestellt, nicken die anderen. Ihre Geschichten sind wie Popmusik, die man plötzlich gut findet, nur weil man sie im Radio wiedererkannt hat. Aber eigentlich bedeutet dies ein neues Bewusstsein von Geschichte: Teil der 'Wende' zu sein heißt im Osten vielleicht mehr als im Westen, aber allen gemeinsam ist das Gefühl, dass "zusammenwächst, was zusammengehört". Auch wenn Rusch selbst diesem Prozess eigentlich nur zusieht, denn ihr Herz hängt zwar ebenfalls an der neuen Freiheit, die heißt aber nicht West-Deutschland, sondern vielmehr ein neues multikulturelles Europa.

Selbst Rusch kennt natürlich die Verlockungen des kapitalistischen Westens. So stürmt sie kurz nach der "Wende" einen Kiosk im Westteil Berlins, um sich Raider zu kaufen. Jaja, sagen wir dann mittlerweile gemeinsam sentimental, Raider war schon toller als Twix, und das Mysterium um die Namensänderung haben wir bis heute nicht verstanden. Was hat eigentlich dieser fetzige "Provinz-Funktionär" nach der 'Wende' gemacht?

Titelbild

Claudia Rusch: Meine freie deutsche Jugend.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
157 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3100660587

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