Identität und Differenz

Aleida Assmann und Heidrun Friese über "Identitäten im Wandel"

Von Hanna ChristiansenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hanna Christiansen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit dem Sammelband "Identitäten" legen Aleida Assmann und Heidrun Friese die Ergebnisse der Forschungsgruppe "Historische Sinnbildung. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Struktur, Logik und Funktion des Geschichtsbewußtseins im interkulturellen Vergleich" am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld vor. Anliegen des Bandes sei, etwas von der Vielfalt der Konstruktionsformen kollektiver Identität zu vermitteln und auf die Grundstrukturen dieser Konstruktionen aufmerksam zu machen. Mit 16 Beiträgen so unterschiedlicher Disziplinen wie Literatur- und Geschichtswissenschaften, Soziologie und Musikethnologie, um nur einige zu nennen, ist ihnen dies gelungen.

Für die Konstruktion von Identitäten sehen die Herausgeberinnen den Begriff der Grenze als zentral an. Merkmal aggressiver Identitätskonstruktion sei, sich von anderen - das können Gruppen, Ethnien, Nationen, aber auch Individuen sein - scharf abzugrenzen, Eigenes und Fremdes klar zu trennen, um sich so der eigenen Identität zu versichern. Gerd Baumann veranschaulicht in seinem Beitrag die Notwendigkeit der Abgrenzung am Beispiel von Identitätskonstruktionen in Southall, einer multiethnischen Vorstadt Londons. Das Ziehen klarer Grenzen ist dort für die Konstruktionen von etwas Eigenem, Neuem notwendig, wobei in einem Parallelprozess bestehende Differenzierungen, wie sie zwischen den ansässigen Religionsgemeinschaften (Sikhs, Hindus, Moslems) oder Ethnien (Asiaten, Karibier, Weiße) vorzufinden sind, implizit zum Gegenstand reflexiver Identitätsbetrachtungen werden. So ergibt sich ein Wechselspiel von Abgrenzung und Inklusion und Identität wird, in den Worten der Herausgeberinnen, zu einer "Praxis der Differenz" wodurch die Funktion der Grenze als "Schutzwall" in den Hintergrund treten kann. Eine solche Betrachtungsweise unterschiedlicher Identitäten macht die Diskurskritik zur Methode der Wahl, interessieren sich deren Vertreter doch für die Formen und Herstellung kultureller Werte bei gleichzeitiger Hinterfragung fester, sogenannter "natürlicher" Grenzen. Diesem Ansatz sind auch die verschiedenen Autorinnen und Autoren des Bandes verpflichtet. Deren Beiträge umfassen den Zeitraum vom 18. bis zum 20. Jahrhundert und verteilen sich auf vier große Kapitel: theoretische Grundlagen, Weiblichkeitskonstruktionen, ethnische und nationale Identitäten. Diese gelungene Gliederung wirkt sich auf die gesamte Lektüre des Bandes aus, da so die ausführlichen theoretischen Analysen im ersten Teil zu einer Art Folie werden, vor deren Hintergrund sich die praktischen Forschungsfragen der verschiedenen Disziplinen lesen lassen.

Ausgehend von dem Dilemma, dass innerhalb der Identitätsdiskussion der Versuch konzeptueller Festschreibungen bei gleichzeitiger Nicht-Benennung, was Identität empirisch sei, unternommen wird, analysiert Peter Wagner zwei sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen an den Begriff Identität: personale und kollektive Identität. Aber auch diese lassen sich nicht ohne weiteres eindeutig bestimmen, macht Wagner doch innerhalb der eigenen Disziplin drei unterschiedliche Diskurse aus, die sich jeweils unterschiedlich auf den Identitätsbegriff auswirken. Die Grenzen des kulturellen Diskurses und des Modernitätsdiskurses werden erst im Differenzdiskurs, in dem sich Identität über die Wahrnehmung und Reflexion von Differenz konstituiert, aufgehoben. In diesem dritten Diskurs wird Identität zu einem aktiven, stets neu auszuführenden Akt. Nimmt man diesen Diskurs ernst, ergeben sich weitreichende Folgen für die Sozialwissenschaften, stellt er doch die beliebten Festschreibungen sozialwissenschaftlicher Empirie in Frage. Wagners Aufsatz gewissermaßen abrundend, analysiert Jürgen Straub in seinem Beitrag personale und kollektive Identitäten, wobei er außer der historischen Entwicklung der Begriffe (Erikson als "Vater" des Begriffs "Ich-Identität" bzw. personaler Identität) auch die Auswirkung mangelnder Identität (manifest in psychischen Störungen) und die Notwendigkeit aktiver Identitätsarbeit (für ein intaktes "Ich") herausstellt. Den Abschluss dieser theoretischen Grundlegung des Bandes bilden die Aufsätze von Martin Fuchs und Shingo Schimada. Fuchs benennt die kulturanthropologischen Probleme, die sich aus der gängigen Praxis des "objektiven" Feldforschers ergeben, z. B. Einführung europäischer Wortschöpfungen, die Zuschreibungen und Stigmatisierungen anderer Kulturen nach sich ziehen, und plädiert für eine Polyvokalität der Repräsentationen, bei gleichzeitiger Vergegenwärtigung interdiskursiver Grenzen und Anerkennung von Widersprüchen und Ambivalenzen. Die Schwierigkeiten nicht nur des Übersetzens von Texten, sondern v. a. auch von Kulturen, wie "das Andere" am besten im "Eigenen" repräsentiert wird und ob das überhaupt funktionieren kann, analysiert Shingo Schimada am Beispiel Japans und verdeutlicht die Wechselwirkungen zwischen Kulturen sowie deren fruchtbares Potential.

Das Themenspektrum der nun folgenden drei großen Kapitel reicht von der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern (Ulrike Prokop / Ute Frevert / Inka Mülder-Bach) und individuellen Identitätskonstruktionen (Elisabeth Bronfen) über kulturanthropologische Betrachtungen (Karl-Heinz Kohl / Gerd Baumann / Mamadou Diawara) bis hin zur Nationalismusforschung der Geschichtswissenschaften (Christian Geulen / Christianse Uhlig / Hans-Jürgen Lüsebrink / Emmanuel Sivan). Alle Autoren und Autorinnen wenden dabei in ihren Analysen die Diskurskritik an, so dass dem Leser die Anwendungsvielfalt dieser Methode demonstriert wird. Auch verdichten sich die einzelnen, thematisch doch recht unterschiedlichen Beiträge durch diese gemeinsame wissenschaftliche Sprache, so dass sich dieser Sammelband als homogenes Ganzes lesen lässt. Es ist den Herausgeberinnen somit gelungen, einen zugleich breiten als auch vertiefenden Überblick über die gegenwärtigen Identitätsdiskussionen zu liefern. Zu ergänzen gewesen wäre der Band allenfalls um die Probleme und Herausforderungen, die sich aus der Identitätszerstörung durch Traumata ergeben. Die von Jürgen Straub beschriebenen Auswirkungen fehlender Identität und die sich daraus ergebende Notwendigkeit von Identitätsarbeit deuten diese Thematik allerdings zumindest an.

Titelbild

Aleida Assmann / Heidrun Friese: Identitäten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
480 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518290045

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch