Schreibschulen

Über ein zu lange missachtetes Phänomen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Tanzen, Musizieren, Malen, alles wird gelehrt. Und das Schreiben? Die Genieästhetik setzte vor gut zweihundert Jahren die noch heute verbreitete Vorstellung durch, dass die Kunst des Schreibens nicht eigentlich lehr- und lernbar sei, sondern Sache ausschließlich der Inspiration und Begabung. Zu den Folgen gehört, dass es heute in Deutschland zwar praxisorientierte Hochschulen für Musik, für bildende Künste, für Film und Fernsehen und auch für den Journalismus gibt, doch, sieht man einmal von einer Ausnahme in Leipzig ab, keine für literarische Wortkünste.

Zur literarischen Abstinenz wurde meine Generation schon in der Schule erzogen. Nur in den unteren Klassen durften wir noch schriftlich erzählen. Später waren wir für Höheres auserkoren: "Besinnungsaufsatz" nannte man das damals, und in dieser Gattung hatte man sich als angehender Philosoph zu bewähren. Oder als zukünftiger Literaturwissenschaftler, wenn es darum ging, Gedichte zu interpretieren. Was Erzählen heißt, wie man Spannung erzeugt, das waren da längst nur noch theoretische Probleme.

Wer dann noch mit literarischen Neigungen zur Universität kam, dem wurden sie meist gänzlich ausgetrieben. Eine 1977 erschienene "Einführung in die Literaturwissenschaft" berichtet in leicht spöttischem Ton über eine Erhebung des Germanistischen Institut der Universität Düsseldorf. Dort hatten 1971, also drei Jahre nach den öffentlichen Totsagungen der "schönen Literatur", immerhin 65 % der Studienanfänger Neigungen zu eigener literarischer Produktion als Grund für ihre Fachwahl angegeben. So wissenschaftsfremde Vorstellungen hatten sie damals von der Germanistik! Literaturwissenschaftler beklagen heute zwar gerne den Verfall der Schreib- und Sprechkultur, gerade auch ihrer Studenten, doch die Einübung von Schreib- und Sprechfähigkeiten halten sie in der Regel von sich fern. Die Kunst oder Technik der Textinterpretation wird vielmehr streng getrennt vom Verfassen eigener Texte. Welten liegen im Germanistikstudium zwischen der Analyse und dem eigenen Schreiben, sei es einer Erzählung, eines Gedichts, eines Dramas, eines Drehbuchs oder auch nur einer Rezension. Solches bleibt, vom Verfertigen der Seminar-, Magister- oder Doktorarbeit einmal abgesehen, privates Hobby, belächelt, mit Wohlwollen geduldet, doch aus dem Terrain ernsthaften, das heißt wissenschaftlichen Interesses für Literatur ausgeschlossen.

Dabei wäre eine wechselseitige Förderung der Analyse und des eigenen Schreibens literarischer Texte durchaus denkbar. Ein zwölfjähriger Gymnasiast erzählte unlängst, er habe im Deutschunterricht gelernt, was eine Fabel sei, und habe dann selber zu Hause eine schreiben sollen. Er hat etliche gelesen, um sie zu imitieren, hat geschrieben, hat Freude daran gehabt und wohl mehr Einsichten in die "Textsorte" gewonnen, als es ohne den eigenen Schreibversuch möglich gewesen wäre. Quod licet bovi, non licet Jovi: Für den Unterricht in höheren Klassen oder gar im Studium ziemt sich solches nicht mehr.

Dabei ist das Bedürfnis erwachsener Menschen, Anregungen und Anleitungen zum literarischen Schreiben zu bekommen, zweifellos nicht zu unterschätzen. Die Vermarktung solcher Bedürfnisse durch Ferninstitute hat längst eingesetzt. "Ist es schon lange Ihr Wunsch, wie ein guter Autor schreiben zu können?" So werben sie um interessierte Kunden. Inzwischen erhalten diese auch auf dem Buchmarkt Angebote in so großer Zahl, dass sie kaum mehr überschaubar sind. Schreibschulen haben heute Hochkonjunktur. Einen Eindruck davon will der Themenschwerpunkt dieser Oktober-Ausgabe von literaturkritik.de vermitteln.

Ihm seien ein paar Erinnerungen vorangestellt. Das Bedürfnis, Literatur nicht nur zu lesen, sondern selbst Literatur zu schreiben, hatte in Deutschland seit den siebziger Jahren vor allem in der sogenannten "Schreibbewegung" ihren Niederschlag gefunden, einer Ausbreitung von schreibender Gruppen in psychotherapeutischen Praxen, Volkshochschulen, universitären Nischen und anderswo. Zum Teil orientiert an amerikanischen Creative-writing-Seminaren, wurde sie in der Bundesrepublik doch auch ganz entscheidend von Tendenzverschiebungen im Bereich der veröffentlichten Literatur gestützt. Die neue "Schreibbewegung" und die "Neue Subjektivität" in der Literatur der siebziger Jahre waren ganz eng aufeinander bezogen und haben sich gegenseitig geprägt. Und beide Phänomene wiederum korrespondierten direkt mit dem damals sogenannten "Psychoboom", einer inflationären Ausbreitung unterschiedlichster Angebote zur psychotherapeutischen Behandlung. Die vielen autobiographischen Krankengeschichten der oft noch jungen Debütanten, aber auch einiger älterer Schriftsteller (vom krebskranken Fritz Zorn, der magersüchtigen Maria Erlenberger bis hin zum Alkoholiker Ernst Herhaus) hatten für Autoren und Leser therapeutische Funktionen. Es war, so resümierte der Literaturkritiker Reinhard Baumgart damals, als hätte sich die literarische Öffentlichkeit in eine große Selbsterfahrungsgruppe verwandelt. Dominierende Themen in Therapiegruppen waren in der Tat auch die der neusubjektiven Literatur: Träume und Phantasien, der eigene Körper, persönliche Erfahrungen des Leidens aller Art, Erfahrungen von Krankheit und Tod, zerstörten Lieben und Trennungen, gestörten Beziehungen zu den Eltern, vor allem zum Vater.

Die "Neue Subjektivität" der 70er Jahre war vielfach durch eine bemerkenswerte ästhetische Anspruchslosigkeit charakterisiert. Ungehemmt von ästhetischen Skrupeln sollte jeder möglichst offen, direkt, ehrlich, "authentisch", wie man gerne sagte, und für jeden Leser (der oft vertraulich mit "du" angeredet wurde) verständlich über sein eigenes Innenleben und persönliches Leiden Auskunft geben können. Bernward Vesper hatte enthusiastisch die Aufhebung des Kunstdiktats beschworen: "Jeder kann es, jeder" Es gibt keine Künstler mehr!" Unter dem enthemmenden Motto "Jeder kann schreiben!" standen und stehen noch heute die Aktivitäten der meisten Gruppen und Kreise aus der "Schreibbewegung", und in ihnen wurden gezielt Arrangements entwickelt, die dazu geeignet sind, den Teilnehmern alle Skrupel beim Schreiben zu nehmen. Die Texte werden oft nicht zu Hause verfasst, sondern in Anwesenheit anderer und in begrenzter Zeit am Veranstaltungsort. Es gibt keine Verpflichtung, den eigenen Text vorzulesen. Nicht ein abgeschlossener, "fertiger" Text ist erwünscht, sondern ein improvisierter, vorläufiger.

In den frühen achtziger Jahren häuften sich deutliche Gegenstimmen zur "Neuen Subjektivität" in der veröffentlichten Literatur. Sie habe, so kritisieren 1982 Michael Krüger und Klaus Wagenbach in ihrer Zeitschrift "Tintenfisch", statt Literatur oft nur "Ehrlichkeitskitsch" hervorgebracht. Botho Strauß sprach in seinen kulturkritischen Prosaskizzen "Paare, Passanten" (1981) über den inflationären Gebrauch von Leidfloskeln": "eine Art hypochondrisches Display" betreibe "Werbung für die eigene Hochempfindlichkeit". Gegenüber der veröffentlichten Literatur der siebziger Jahre ist die der achtziger von einem gesteigerten Formbewusstsein und Kunstanspruch gekennzeichnet. Damit bewegten sich Schreibbewegungen und Gegenwartsliteratur wieder auseinander.

In der alten Schreibbewegung gab es vielfach einen programmatischen Verzicht auf eine über den Buch- und Zeitschriftenmarkt hergestellte Öffentlichkeit. Die Adressaten der Schreibenden waren in der "Gruppe" zu finden. Allenfalls in Form von "Rundbriefen" wurde eine Art erweiterter Gruppenöffentlichkeit hergestellt. Wo immer über Praktiken der Schreibbewegung berichtet wurde, hatte das Interesse an "literarischer Geselligkeit", an "Gruppenprozessen", an einer "Gemeinschaft" Gleichgesinnter, an "Erfahrungsaustausch" und dergleichen einen dominanten Stellenwert. Literaturkritik, die in Deutschland vor gut zwei Jahrhunderten mit der Etablierung eines literarischen Marktes entstand, war hier fehl am Platz. "Mit Kritik an Texten sind wir äußerst zurückhaltend", berichtete noch in den achtziger Jahren ein erfahrener Literaturdidaktiker über die von ihm geleiteten "Schreibwerkstätten".

Die Szene hat sich mittlerweile verändert. Das Handwerkliche und Artifizielle ist in Schreibschulen der Gegenwart in den Vordergrund getreten. Es geht weniger um Erfahrungen als um Techniken. Und wo das sprachliche und literarische Können in den Vordergrund rückt, hat auch die Kritik ihren Platz. In Schreibseminaren tauscht man sich heute nicht mehr verständnisvoll über das eigene Empfinden aus, sondern mit kritischer Rücksichtslosigkeit über das Gelingen und Misslingen der literarischen Versuche. Und diese suchen inzwischen stärker als zuvor die Öffentlichkeit - im Internet, noch besser aber in Form eines gedruckten Buches, auch wenn dieses dann nur im Verfahren des "Publishing on demand" hergestellt wird und in einem der immer zahlreicher werdenden Verlage erscheint, die den Autor zur Kasse bitten.

Langsam entdecken auch die Universitäten, was Schreibschulen leisten können. Außer in Leipzig sind sie in Hildesheim, Marburg oder auch München inzwischen fest etabliert. Es ist vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis sie in literaturwissenschaftliche Studiengänge fest eingebunden sind. Denn die Fähigkeit zu schreiben ist das, was von Absolventen literaturwissenschaftlicher Studiengänge in allen Berufssparten mehr erwartet wird als alles andere. Es müssen ja nicht nur Gedichte, Erzählungen und Romane sein. Gelehrt wird von den gegenwärtig angebotenen Schreibschulen fast alles: das Schreiben von Drehbüchern ebenso wie das "Texten" von Werbung, das Verfassen von Klappentexten wie das von Rezensionen.

Aber Literatur darf es eben auch sein. Wie ein klassisches Drama aufgebaut ist, hatte 1863 Gustav Freytag in seiner Schrift "Technik des Dramas" bündig zusammengefasst. Angehende Literaturwissenschaftler lernten an ihr, ein Drama zu beschreiben. Inzwischen wird das Buch vom rührigen "Autorenhaus Plinke" angeboten, weil man mit ihm auch lernen kann, selbst ein Drama zu verfassen. Es handelt sich um eine "Bearbeitete Neuausgabe des Grundlagenwerks für Theater-, Hörspiel- und Drehbuch- und Romanautoren". Vielleicht erscheint hier demnächst auch jenes Buch, das lange Zeit der verspottete Inbegriff einer Schreibschule aus der Zeit des Barock war: Georg Philipp Harsdörffers "Poetischer Trichter / die teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI Stunden einzugiessen". Dieses Mitte des 17. Jahrhunderts erschienene Lehrbuch für Gymnasiasten hätte eine Rehabilitation durchaus verdient.