Faustine, das schöne Zeichen

"Morels Erfindung" von Adolfo Bioy Casares in einer Neuübersetzung von Gisbert Haefs

Von Andreas BaumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Baumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal ist Lesen wie Beobachten. Oft stellt sich das einfach ein, mehr oder weniger zufällig. Zuweilen resultiert es aber auch aus einem Stilwillen, aus der Absicht, den Leser auf Distanz zu halten, ohne seine Anteilnahme abzuschwächen. Eine Kunst erfordert das zumal dann, wenn es sich um phantastische Literatur handelt, Literatur, die besonders dazu bestimmt zu sein scheint, "verschlungen" zu werden. Der Roman "Morels Erfindung" schafft diese Balance auf vorbildliche Weise. Worin auch sonst erwiese sich ein Meisterwerk? Dieses verschaffte seinem Autor, dem Argentinier Adolfo Bioy Casares, 1940 den Durchbruch. Weniger durch die Befremdlichkeit der von ihm geschilderten Ereignisse unterhält der Roman die Reserve des Lesers, den es ja nach dem Unerhörten eher gelüstet. Es ist vielmehr Bioys stilistische Sensibilität, was hier die Lichtverhältnisse beim Lesen regelt, ein Vermögen unterschiedlichste Sprechweisen und Schreibstile miteinander zu konfrontieren. Der Suhrkamp-Verlag legt jetzt eine vom Borges-Herausgebers Gisbert Haefs besorgte routinierte Neuübersetzung des Klassikers vor.

Was wir lesen sind die Tagebuchaufzeichnungen eines wegen namenloser politischer Vergehen in Venezuela zu lebenslanger Haft verurteilten Flüchtlings. Auf einer abgelegenen Pazifikinsel will er seine Rechtfertigung vor der Welt und einer ihm allgegenwärtigen Justiz zu Papier bringen. Die Abgeschiedenheit der Insel, noch dazu der Schrecken einer dort angeblich herrschenden entsetzlichen Seuche, ein verlassener Gebäudekomplex und seine Hoffnungslosigkeit scheinen die dafür notwendigen Bedingungen zu schaffen. Bis unerklärliche Eindringlinge auftauchen, eine etwas altmodisch anmutende Gesellschaft von Sommerfrischlern, darunter die anbetungswürdige Faustine, und ihn zur Flucht in die sumpfigen Küstenniederungen zwingen. Dort ständig von der Flut bedroht, sich von mehr oder weniger giftigen Wurzeln ernährend, fristet er sein kümmerliches literarisches Leben, dessen Sinn von nun an darin liegen wird, das leidenschaftliches Bemühen um die unnahbare Faustine zu protokollieren, die für ihn, wie die ganze Gesellschaft, unter dem Einfluss des undurchsichtigen Gönners Morel steht. Aber was ist der Zweck der Generatoren und Spiegelfluchten unter den modern ausgestatteten Gesellschaftsräumen des Komplexes?

Einen verschwiegenen, im Laufe der Erzählung zunehmend makabren Humor bekommt das Ganze durch einige besserwisserische Anmerkungen, mit denen ein "Herausgeber" des Tagebuchmanuskripts von Zeit zu Zeit die verzweifelt grotesken Anstrengungen des Helden, sein quälend langsames Begreifen und den Stil seiner Schrift kommentiert. Vor lauter philologischem Eifer nimmt dieser Herausgeber die geschilderten Ereignisse einfach als faktisch hin; all die Bilder, mit denen das Tagebuch das Unglaubliche bezeugen will, bleiben ungeprüft: Faustine an den Klippen unter der doppelten Sonne; das sich von den Knochen lösende Fleisch der Lebenden; die im Regen tanzenden Phantome; die wiedererwachende Hoffnung. Auch der Herausgeber verkörpert, als "hypothetischer Beobachter" angerufen, so etwas wie eine Hoffnung für den Tagebuchschreiber. Beider Vergesellschaftung bleibt aber medial, ganz im Förmlichen. Den Beobachter interessiert, ob die Mitteilung richtig ist, ihre Wahrheit nur als Frage der Sprachregelung.

Natürlich ließe sich die Anerkennung dieser sozusagen durch Gleichgültigkeit beglaubigten Wirklichkeit auch als bloßer Zweck eines Kunstgriffs abtun, mit dem Bioy die Absicht verfolgen würde, die phantastische Wirkung der Erzählung zu erhöhen. Wenn die Arbeit des Kommentators nicht vom gleichen stolzen Wunsch nach Gerechtigkeit gelenkt würde, der auch die unheimliche Gesellschaftsmaschine Morels belebt. Dieser Wunsch steht im Zentrum. Der ganze Roman wird angetrieben von einem juristischen Eros; blind und einsam findet sich die Seele gefangen in der "höllischen Maschine der Justiz", mit der Hoffnung auf eine irgendwie geartete Entscheidung, die Absolution. Ein nicht immer ganz glatter Betrug. Die metaphysische Frage lautet hier: Kommt die Seele im Bild zu ihrem Recht? Die Antwort, die der Roman wie eine Drohung zum Vorschein bringt, lässt das Bild des Körpers - um den Preis der physischen Auslöschung - identisch werden mit seiner Seele. Auf diese Weise bestätigt er nebenbei die primitive Furcht vor dem Seelenverlust durch die photographische Aufnahme. Morels illusionistisches Utopia aber beruhigt die politische Verzweiflung des Verfolgten mit einem schönen Zeichen dafür, daß die Rechtfertigung durch die Leidenschaft doch möglich sein könnte. Dabei reduziert es sein Handeln tatsächlich auf die blanke Reaktion, die Erwartung nämlich eines politischen Wunders. Daß ihm dieses Wunder gewährt wird, bekommt er nicht mehr mit, denn es fordert seinen Tod, mehr noch: die Verewigung des Todes.

"Ich versuchte es mit verschiedenen Erklärungen ... diese schrecklichen Lösungen sind vereitelte Hoffnungen." Aber die Hoffnung kehrte doch erst mit den Phantomen zurück! Ganz ähnlich verlockt der Roman den Leser zu Deutungen. Sie werden alle wieder eingezogen. "Diese Gedanken hin und her zu wenden verschaffte mir eine anhaltende Euphorie." Der Roman, genauso wie die Konstruktion Morels, lebt von den Deutungen.

Entstanden in der "Década infame" Argentiniens, den dreißiger Jahren bis zum Militärputsch des Jahres 1943, als das Land von autoritären Regierungen geführt wurde, über die ein jeder wusste, dass sie ihre Legitimität nur durch Wahlbetrug und Wählereinschüchterung behaupten konnten, formt der Roman ein metaphysisches Denkbild innerhalb eines politischen Dramas. In seinem Vorwort zur argentinischen Erstausgabe hat Jorge Luis Borges, engster Freund Bioys, "Morels Erfindung" sinngemäß als argumentierende Phantasie bezeichnet. Zeitweilig stellte dieses Vorwort eine für beide Schriftsteller wichtige Positionsbestimmung dar. Leider fehlt es in der nun vorgelegten deutschen Neuausgabe. Borges verteidigt dort die Möglichkeit einer rationalen Literatur strenger Handlungsführung, zu der er die Werke etwa von Stevenson, Henry James oder Kafka zählt, gegen den Vorwurf, ihr fehle es an Geschichten, die den psychodramatisch interessierten Zeitgeschmack befriedigen würden, ja, gegen den Vorwurf des Anachronismus. Aber hatte der psychologische Charakterroman mehr zu bieten? Dagegen sprach für Borges dessen inzwischen fast snobistisch gewordene moralische Beliebigkeit.

Angesichts des bis dahin folgenlosen Legitimationsschwunds im politischen System Argentiniens signalisiert dieses literaturgeschichtliche Argument einen nervösen Hintersinn - ohne Borges' eigenem Interesse hier allzuviel Aktivismus zumuten zu wollen. Denn zugleich gibt es da eine gewisse rückwärtsgewandte technische Distanz gegenüber der unklaren, bei ihm natürlich ausdrücklich literarischen Gegenwart, ein wenig so etwas wie literarischen Kulturpessimismus - oder nur einen argentinischen Ton? In jedem Falle: Wo Bioy die technische Beschränkung der phantastischen Literatur noch zum Thema seines Romans macht und sie auf ein technokratisches Verlangen zurückführt - auch die Leserführung ist davon betroffen -, verleiht er selbst der Idee einer rationalen Phantastik einen deutlichen politischen Sinn. Seine späteren Arbeiten werden von dem Versuch geprägt sein, die absonderliche Geschichte mit einer realistischen Schilderung der Milieus der Vorstädte von Buenos Aires zu verbinden.

Nicht nur weil "Morels Erfindung" Meditationen über Identität, photographische Abbildung und Apparatur anstellt, sondern gewiss auch durch dieses Hineinnehmen des Themas technokratisch beobachteter Medialität hat der Roman, dessen weibliche Hauptfigur Bioy selbst aus seiner Verehrung für die Filmschauspielerin Louise Brooks erklärte, die Aufmerksamkeit des Films hervorgerufen. So ließ sich Alain Robbe-Grillet von dem Roman zu seinem Drehbuch für Alain Resnais' Film "L'Année dernière à Marienbad" inspirieren. Andere filmische Adaptionen folgten.

Warum aber Ahnenreihen konstruieren? Interessanter, wenn nicht einfach nur näherliegend, ist die Annahme eines motivischen Kraftfelds, in das "Morels Erfindung" eingreift, genauso wie Kafkas "In der Strafkolonie", Roussels "Locus Solus", "The Island of Dr. Moreau" von H. G. Wells, J. G. Ballards "The Terminal Beach" und noch eine Vielzahl anderer berühmter und weniger berühmter erzählerischer Einfälle seit der Romantik, mit denen sich eine Empfindung dafür zu erkennen gibt, daß die Zeit nicht mehr einfach verfließt, sondern angehäuft wird - und zwar in Form von Bildern. Hier liegt die Aktualität: im Bewusstsein, dass die moderne Gesellschaft, ihrem Gesetz der Akkumulation entsprechend, Unmengen von Hoffnungen produziert. Adolfo Bioy Casares' Roman fragt in diesem Zusammenhang nicht nur: Was sollen wir mit diesen Trugbildern der Technik machen? Er fragt noch, solidarisch mit dem Flüchtling: Woher kommen die und welches Recht haben die, die sich dabei "wir" nennen?

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Adolfo Bioy Casares: Morels Erfindung. Roman.
Übersetzt aus dem Spanischen von Gisbert Haefs.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2003.
154 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518414267

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