Mut zur Lücke

500 neue Erzählungen des diesjährigen Büchner-Preis-Trägers Alexander Kluge

Von Alexander MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der bedeutendste deutsche Literaturpreis, der Georg-Büchner-Preis 2003, wird auf der Herbsttagung der Akademie für Sprache und Dichtung am 25. Oktober in Darmstadt dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge überreicht. Man darf sich bereits jetzt freuen auf seine Festtagsrede, die sicherlich an Originalität und Witz den Reden der von Kluge geschätzten Vorgänger Heiner Müller und Durs Grünbein in nichts nachstehen wird. Zuvor allerdings besteht die Möglichkeit, ein weiteres erzählerisches Großwerk - die Produktivität Kluges ist nur noch ungläubig wahrzunehmen - zu würdigen. Nach der über 2.000 Seiten starken "Chronik der Gefühle" (2000) folgen knapp 500 weitere Geschichten aus dem "Umfeld des neuen Jahrhunderts", die eine beinahe 1000-seitige Sammlung von geistreichen und tragikomischen Prosaminiaturen ergeben. Von der Chronik, die das subjektive Moment betonte, menschliches Gefühl und Zeit, unterscheiden sich die neuen Geschichten gemäß Kluge wie folgt: "Die Lücke, die der Teufel läßt setzt [...] die SUCHE NACH ORIENTIERUNG fort, aber mit einem neuen Erzählinteresse: Die ,Geisterwelt' der ,objektiven Tatsachen' tritt stärker in den Vordergrund. Die Realität zeigt Einbildungskraft."

Die glückliche Wahl der Akademie traf ein außergewöhnliches multimediales Genie, das es sich nicht nehmen lässt, in gleich mehreren Disziplinen zu glänzen. In Halberstadt 1932 als Sohn eines Arztes geboren, studierte Kluge Rechtswissenschaften, Geschichte und Kirchenmusik in Marburg und Frankfurt am Main, u. a. bei Theodor W. Adorno, dessen gemeinsam mit Max Horkheimer publiziertes Werk "Dialektik der Aufklärung" eine Art Grundbuch für ihn darstellt; gerade zum diesjährigen Adorno-Jubiläum hat er sich dazu mehrfach geäußert. 1956 promoviert, wurde er nach dem Assessorexamen in Berlin und München als Rechtsanwalt tätig. Die juristische Berufung scheint allein nicht befriedigend gewesen zu sein, denn gleichzeitig wandte sich Kluge dem Film und der schriftstellerischen Tätigkeit zu. Der Einstieg in die Filmbranche gelang 1958 als Assistent von Fritz Lang, und vermutlich dürfte aus dieser Erfahrung heraus sein Hang zur unabhängigen Produktion herrühren. Denn Kluge durfte der "Zerstörung eines Filmkonzepts" - ähnliches findet sich in den neuen Erzählungen wieder - beiwohnen: Er hospitierte bei den Dreharbeiten von "Das indische Grabmal", das zu einem künstlerischen Fiasko für den berühmten Regisseur werden sollte, da seine Mitarbeiter vom Produzenten gegängelt und Langs kostspielige, "fast wagnersche" Vorstellungen ignoriert wurden.

Kluge selbst drehte seit 1960 als Regisseur und Produzent Kurzfilme. 1962 war er Mitinitiator des "Oberhausener Manifestes". Er übernahm im selben Jahr zusammen mit Edgar Reitz und Detten Schleiermacher die Leitung des "Instituts für Filmgestaltung" an der Hochschule für Gestaltung in Ulm. Nach Gründung der eigenen Produktionsfirma "Kairos-Film" gelang ihm bereits mit seinem ersten ausgezeichneten Spielfilm "Abschied von gestern" (1966) ein internationaler Erfolg, wobei der Titel des Films zum vielzitierten Motto des sogenannten Neuen Deutschen Films wurde. Im weiteren Verauf seiner Karriere als Regisseur forderte er sein Publikum vor allem durch assoziative, zwischen Dokumentation und Fiktion changierende Essayfilme wie etwa "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" (1973), "Die Patriotin" (1979) oder "Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (1985) heraus. Ihnen gelang es in bemerkenswerter Manier, politisches Engagement und Ironie wirkungsvoll zu vereinen. Stets auch medienpolitisch aktiv - Kluge wirkte an der Festschreibung sog. "Kulturfenster" in den Vollprogrammen der Privatsender mit - gründete er 1987 mit der japanischen Werbeagentur Dentsu Inc. und dem Spiegel Verlag die Development Company for TV Program mbH (dctp). Federführend bei den TV-Kulturmagazinen "10 vor 11", "News & Stories" und "Prime-Time/Spätausgabe" praktiziert er dort das "Fernsehen der Autoren" und überrascht die nächtlichen Konsumenten mit Heiner Müller-Interviews, langen Christoph Schlingensief-Nächten, seiner ungebrochenen Begeisterung für die Oper oder mit fingierten Gesprächen, "Fakes", mit Peter Berling, der für Kluge in die verschiedensten Rollen schlüpft.

Film und Literatur gingen bei Alexander Kluge stets Hand in Hand, sie ergänzten sich, befassten sich mit ähnlichen Themen und spielten die jeweils eigenen Stärken aus. Neben zahlreichen kultur- und medienpolitischen Schriften, vorwiegend gemeinsam mit Oskar Negt, publizierte er immer wieder analytische Szenen, historische und zeitgenössische Anekdoten, deren ganz einzigartige Komik viel zu selten gelobt wird. Leicht zugänglich sind seine Prosaarbeiten wohl nie gewesen. Der sachliche, lakonische Stil und die Präzision der Sprache treten allzu oft in einen Gegensatz zu inhaltlich disparaten Ereignissen, surrealen Beobachtungen und fachwissenschaftlichen Absurditäten, die in der Erzählung meist auf ein unauffällig didaktisches Projekt hinauslaufen. Seine Poetik entlehnt er schließlich der dadaistischen Devise, man versuche mit einer Stadtkarte von Groß-London den Harz zu durchwandern. Zweck der elliptischen Erzählform, wie Kluge sie schätzt, ist es, die andernfalls verschwiegenen Nebensachen, z. B. der Historie, vor allem der mündlich weitergegebenen Geschichte von unten, aufzubewahren. Die lineare Erzählung betrachtet er hingegen als Ausnahme, das Verfolgen eines roten Fadens als "Autobahnstrategie", wohingegen er das "Gehen auf Pfaden und Gartenwegen, das Ahnen, Wandern und Spazierengehen" vorzieht, wie er es in einem Werkstattgespräch der "Neuen Rundschau" veranschaulichte.

In "Die Lücke, die der Teufel läßt" wird die Geschichte von unten im Kleingedruckten entdeckt: "Eine berühmte Geschichte erzählt von der SCHRIFT AN DER WAND. Sie erschreckte früher die Tyrannen. In unseren Jahren wenden sich die Menetekel (z. B. Tschernobyl, der asymmetrische Krieg) nicht bloß an definierte Herrscher, sondern an uns alle. Ich habe den Eindruck, diese Botschaften enthalten viel Kleingedrucktes", heißt es im Vorwort des Bandes. Von diesen mit Nachdruck dargestellten historischen Lücken, die die Einbildungskraft und den von Kluge so bezeichneten Möglichkeitssinn wachrufen, ist in den Erzählungen allzuviel zu finden, z. B. die Lücke, durch die Faust entkommt, und es ist dabei doch das Schöne an einer so reichen Sammlung, dass man sich nach Lust und Laune die eigenen Lieblingsgeschichten zusammensuchen kann. Zu den meinen gehört der bestürzende Bericht eines fragwürdigen Arztes, der sich im geheimen Dienste des Paracelsus sieht und mit Hilfe des "Tibetanischen Totenbuchs" den Augenblick des Sterbens begleitet, untersucht und dokumentiert.

Der Historie im weitesten Sinne, damit auch dem aktuellen politischen Weltgeschehen, gilt wie schon in der "Chronik" das Augenmerk des Autors. Doch wird gleichzeitig das eigene Schaffen reflektiert bzw. legitimiert, und darüber hinaus wird kenntlich gemacht, wie sehr Kluges Schreiben durch Gespräche, Fernsehinterviews, Theateraufführungen, Filme etc. inspiriert wird. Manches wirkt so ausschnitthaft-assoziativ wie die Anekdoten Heiner Müllers, die er Kluge gegenüber gern zum Besten gab, ein Nachruf auf Einar Schleef scheint das begonnene TV-Gespräch fortzusetzen, und wenn im ersten Teil der neuen Erzählungen immer wieder Vincenzo Bellinis "Norma" auftaucht, sieht man schon beinahe die dctp-Zeitrafferaufnahme einer Opernaufführung vor dem inneren Auge. Anhand einer Geschichte über David Wark Griffiths Film "Intolerance", erzählt von einem Assistenten für "praktische Vorschläge", werden schließlich beispielhaft die nicht wahrgenommenen Entfaltungsmöglichkeiten der Filmkunst bedauert. Unterschwellig wird wiederum der Möglichkeitssinn, eine Hoffnung (auf ein "VATERLAND AUSSERHALB DES REALEN"), angesprochen, die auf den ersten Blick lächerlich erscheint. Dennoch ergreift einen die aphoristische Begründung des verhinderten Künstlers: "Von der Realität bin ich bereit, mich zu trennen. Die Beschönigung der Zukunft macht mir Angst." Der Erzähler verweist aber nicht allein auf bekannte Geistesgrößen, er tritt mit ihnen in einen fiktiven und oft sehr komikträchtigen Dialog. Die verschiedenen Erzählinstanzen werden währenddessen häufig in einem verwirrenden Spiel gewechselt. So fällt sich der Narrator selbst ins Wort, kommentiert seine Beobachtungen oder sieht sich mit einem den ,objektiven Tatsachen' zugehörigen Dokument konfrontiert. Sein Vorbild findet dieses Verfahren offensichtlich in Walter Benjamins "Passagenwerk", da, wie Kluge es programmatisch in seinen Textnachweisen festhält, dessen "Prinzip des ,Kommentars und der Sammlung' eine neue Literaturgattung darstellt und für Texte des 21. Jahrhunderts eine Perspektive eröffnet." Kluge hat dieses wahrlich nicht neue Konzept für sich wiederentdeckt und weiß damit zu überzeugen. Sammlung und Kommentar gewährleisten das Bruchstückhafte, Unvollkommene, die Mischung von Textsorten und somit die größte Herausforderung an den Rezipienten selbst, da eindeutige Zuweisungen bzw. ganzheitliche Weltanschauungen, in denen man sich bequem einrichten könnte, dadurch vermieden werden. Nicht einmal das von-vorne-nach-hinten-Lesen des Buches ist hier noch obligatorisch, man kann vielmehr vergnüglich kreuz und quer schlendern wie auf den besagten, verschlungenen "Pfaden und Gartenwegen", wohin einen der Zufall, das Schicksal oder das schlichte Leseinteresse auch führen mag.

Titelbild

Alexander Kluge: Die Lücke, die der Teufel lässt.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
950 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3518414895

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