Der Miracoli-Moment

Paulus Böhmers universale Gedichte "Kaddish I-X"

Von Alexander FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Frank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende der 60er Jahre gab Walter Höllerer in den "Akzenten" die Parole aus, das zukünftige Gedicht habe vor allem lang zu sein, um seinen Aufgaben gerecht zu werden. Die Reaktionen damals waren gemischt - so etwa Jandl: "zum / höll / mit dem kurzen / gedichte / zum / höllerer / mit dem / l / a / n / g / e / n" - und noch immer kann man sich beim Aufschlagen eines Gedichtbandes weitgehend darauf verlassen, kurze Texte geboten zu bekommen. Paulus Böhmer ist ein Autor langer Gedichte, der seit 1963 über ein Dutzend Gedichtbände in kleinen und kleinsten Verlagen veröffentlicht hat, zuletzt 2001 "Lama Lama Sabachthani" im Ein-Mann-Verlag von Peter Engstler in Ostheim in der Rhön. Nachdem er durch einen Auswahlband bei dtv (ebenfalls 2001) gewissermaßen die offiziellen Weihen erhalten hat, liegt nun bei Schöffling & Co. ein kapitaler 350 Seiten starker Band mit zehn Langgedichten aus mehreren Jahrzehnten vor.

"Kaddish I-X" ist, auch wenn die Teilstücke über einen großen Zeitraum hinweg entstanden sind und teilweise bereits einzeln veröffentlicht wurden, ein einziger gewaltiger Wortstrom, so einheitlich wie amorph. Der Anspruch geht aufs Ganze, auf eine enzyklopädische Inventarisierung des Universums vom Zellplasma zu den Quasaren, vom Intimen zum Virtuellen. Das Buch inszeniert eine Inversion des Urknalls: alles Denkbare stürzt aus jeder Richtung ins Ballungszentrum eines Stapels Druckseiten. Dabei fliegen dem Leser gehörig die Fetzen um die Ohren. Das Grundprinzip ist die Reihung des möglichst Verschiedenen, die alte Surrealistennummer der Begegnung des Regenschirms mit der Nähmaschine, bzw. bei Böhmer der Begegnung von Winnetou, Mikrobenmatte, Wasserstoffwolke, Grönland, zwölf Tonnen Roastbeef, einem starren Kokongespinst und dem Milchstraßenzentrum bereits auf der ersten Seite.

Alles wird dabei offensichtlich gleich wichtig genommen, nichts wird über- oder unter- oder eingeordnet, nichts strukturiert, geformt, gedeutet, alles reiht sich in die endlose Verkettung der Worte: "die endlosen Ver= / kettungen der Worte mit ihren unvermittelten Brüchen, die / den Sinn vor dem Verstehen behüten, umstehen / die undeutliche Behauptung eines zu schützenden Innen, / in weißem Rauschen, das nur sich selbst beweist, in den / Pendelbewegungen des Labyrinths, in Hinein und Zurück / und Hinein und Kehre ins Zentrum ...". Dieses Spiel der Differenzen, es ist hier angedeutet, zielt dialektisch auf Totalität: die Einheit von Ich und Welt, Vergangenheit und Gegenwart, Leben und Tod. Weil "die Welt da draußen alles ist", gibt es das Innen nur als Negativabdruck des Außen, ist das Subjekt in die Objekte zerstreut. Der kosmische Epos offenbart sich als "Song of Myself" ganz in der Tradition Walt Whitmans, auf den auch angespielt wird ("Ist all das Gras da in mir?").

Das Kaddisch als Totengebet ist die Vergegenwärtigung von etwas Vergangenem, in ihm wird das Tote noch einmal lebendig. Gleichzeitig wird dem in den Gedichttext Eingehenden das Leben genommen, es erstarrt zu ewiger Schrift. "Für die lange letzte Sekunde, / in der wir uns zusehen können" beginnt das erste Gedicht: die Zeitdimension soll aufgehoben sein zu einem ewigen Augenblick. So wie jede vor dem Leser promenierende Partikel "ich" ist, ist sie auch "jetzt". Daher gibt es in dem Zyklus keine Ordnung, keine Struktur, da jeder einzelne Moment nicht Teil eines größeren Ganzen sein soll, sondern Aufscheinen von Totalität, unmittelbare Präsenz: In den "winzigen Augenblicken im Ozean des Unbegreiflichen" will das Gedicht "das Geringe des Lebens / einen Lidschlag lang aufleuchten" lassen.

So ambitioniert das Programm sein mag, am Leser wälzt sich der endlose Strom von Dies und Das ziemlich zäh vorbei und er hat eigentlich nur die Chance, hineinzuspringen, sich mittreiben zu lassen und selbst etwas aus dem Treibgut zu machen, das ihm an den Kopf knallt. Gelegentlich gibt es luzide Passagen, semantische Reibungen, aus denen sich Funken schlagen lassen, aber leider stößt man sich auch immer wieder an Plattitüden ("Es gibt keine Worte für Gefühle"), an Klischees (wie den Feindbildern "Massentierhaltung", "Kapitalströme") und der ach so mutigen und abgeklärten Illustration der vermeintlichen Tabubereiche Sex und Gewalt.

Böhmer gelingt mit Assonanzen, parallelen Strukturen und Leitmotiven ein musikalischer und durchaus auch mitreißender Duktus, dem aber die inhaltliche Zersplitterung entgegensteht, so dass sich nicht der hymnische Ton eines Whitman oder Ginsberg entwickeln kann (durch die Anknüpfung an Ginsberg und dessen Gedicht "Kaddish" von 1959 könnte sich Böhmers Schreibung des Titels ohne "c" erklären).

Ein anderer Vergleich, der sich aufdrängt, ist der mit Paul Wühr, da Böhmers postuliertes Programm weitreichende Parallelen zu diesem aufweist: "Jede / Ordnung ist eine Ordnung des Todes". Wührs Gedichtzyklen sind ebenfalls monumental, die letzten zwei Bände haben sogar jeweils mehr als den doppelten Umfang von "Kaddish", und sie bestehen ebenfalls aus heterogenen Partikeln der verschiedensten Wirklichkeitsbereiche und Diskurse. Beiden Autoren gemeinsam ist das Anschreiben gegen den Begriff und dessen doppelten Anspruch, das Differente auf den gleichen Nenner einzuebnen und das Ganze in Teile zu zerstückeln. Da der Begriff also niemals das Einzelne oder das Ganze "haben" kann, ist das Einzelne und Ganze - das Ich, die Welt - höchstens gegen den Begriff zu haben. Die Masse und Heterogenität der Dichtung von Wühr und Böhmer resultieren so letztlich aus der Revolte gegen den Absolutismus des Begriffs. Aber während Wühr sich Strategien erarbeitet hat, die Überlistung der Sprache in der Sprache zu inszenieren, durch syntaktische Brüche und komplexe Kompositionsstrukturen etwa, bietet Böhmer lediglich eine Aufzählung, die ihre Sprengkraft ausschließlich aus ihrer chaotischen Fülle schöpfen muss (und dies aber auch nicht so radikal schafft wie etwa Inger Christensens "Alphabet").

Wenn man böswillig wäre, könnte man dem ehemaligen Werbetexter Böhmer, der für Slogans wie "Pepsi ist Musik" und "Der Miracoli-Tag" verantwortlich zeichnet, vorwerfen, er habe eine trübe Brühe gebraut, oder: das Hackfleisch müsse erst noch dazugegeben werden. Doch es gibt auch Momente, in denen etwas aufscheint vom Mirakel des Lebens, das er so beharrlich umkreist.

Titelbild

Paulus Böhmer: Kaddish I-X. Gedichte.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
348 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3895611263

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