Alles Erkämpfte wird handlich

Ein Heidegger-Handbuch als Werkzeug des Denkens

Von Thomas WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass besonders das Handwerk für die Philosophie Heideggers eine paradigmatische Rolle gespielt hat, gehört wohl zum Gemeingut in gebildeten und halbgebildeten Kreisen. Dass jedoch alles Handliche und Handhabbare immer schon dazu neigt, zum nur noch theoretisch Verhandelten oder technisch Verfügbaren herabzusinken, wenn keine wirkliche Aneignung oder Auseinandersetzung mehr stattfindet, ist die eigentliche Pointe seines Denkens.

Für Heidegger vollzieht sich der Fortschritt der Wissenschaften daher auch weniger in einer Sammlung ihrer Resultate in Handbüchern, als vielmehr in der mehr oder minder radikalen Revision ihrer Grundbegriffe. Unter einer derartigen Krisis versteht er aber nicht nur die später sogenannten "Paradigmenwechsel" (Thomas S. Kuhn) als Motor wissenschaftlicher Forschung, sondern wie sein Lehrer Husserl auch den zunehmenden "Verlust der Lebensbedeutsamkeit" in einem technologischen Zeitalter. Und so ist es einerseits der dezidiert methodische und systematische Anspruch seiner ontologischen Daseinsanalyse, andererseits der kulturpessimistische und de(kon)struktive Duktus seiner Konfrontation mit der Moderne, die Heideggers Philosophie in sämtlichen ihrer Diskurse präsent und umstritten sein lassen. Obwohl er nach eigenem Selbstverständnis immer nur auf dem einen Wege der 'Seinsfrage' unterwegs gewesen sei, ziehen deren sogenannte "Wegmarken" oder "Holzwege" eine unübersichtliche Diversität von Rezeptionslinien nach sich, der eine Polarisierung der Diskussion über jenes abgründige Denken gegenübersteht. Angesichts einer auf über hundert Bände angelegten Gesamtausgabe, die nach dem Willen des Meisters ohne textkritischen Apparat oder Register auszukommen glaubt, sind hier also durchaus einige Handreichungen vonnöten, um dem geneigten Leser einen eigenen Zugang zu ermöglichen.

Das von Dieter Thomä herausgegebene Heidegger-Handbuch will daher "für diejenigen brauchbar sein, die sich rundum für seine Deutung des menschlichen Welt- und Selbstverständnisses und für deren Kontext und Wirkung interessieren." Der bereits durch seine monumentale Dissertation "Die Zeit des Selbst und die Zeit danach" (1990) als kritischer Interpret des Seinsdenkers bekannt gewordene Philosoph, der nun als Professor an der Universität in St. Gallen lehrt, hat mit diesem Großprojekt 48 Heidegger-Forscher aus ganz unterschiedlichen Generationen und Traditionen motiviert, in 72 Artikeln Werk und Wirkung näher zu bringen. Der erste Teil widmet sich dabei chronologisch den einzelnen Texten oder Textgruppen beziehungsweise grundlegenden Stichworten zu Heideggers philosophischer Konzeption, der zweite Teil dem Kontext der Zeitgenossen und Nachfolger beziehungsweise der selbständigen Fortführung entsprechender Anstöße bei ehemaligen Schülern, einstigen Weggefährten oder erbitterten Gegnern. Daran schließt sich drittens eine dokumentierte Chronik an, in der die wichtigsten Daten aus Heideggers Denk- und Lebensweg in Beziehung zu historischen Ereignissen und 'Parallelaktionen' gesetzt werden. Komplettiert wird der Band durch ein ausgewähltes Literaturverzeichnis zu thematischen Schwerpunkten, das durch die bibliographischen Angaben der einzelnen Artikel ergänzt und vertieft wird. Da es nicht möglich ist, sämtliche dieser durchaus eigenständigen Aufsätze zu referieren, zumal sie sich wohltuend von dem oft indifferenten Habitus lexikalischer Abhandlungen unterscheiden, soll im Folgenden nur versucht werden, einen Eindruck ihrer Bandbreite zu vermitteln:

Die acht Beiträge des Herausgebers und seine bereits erwähnte Dissertation zur Textgeschichte Heideggers ziehen sich dabei wie ein roter Faden durch das Handbuch, an den auch andere Autoren immer wieder anknüpfen können. Das thematische Spektrum reicht hier von den frühesten Texten als katholischer Theologiestudent, über 'Kehre' und NS-Engagement, bis hin zur Sprache des Seins beziehungsweise von einer Aufnahme dieser Impulse oder der Auseinandersetzung mit ihren Konsequenzen etwa bei Leo Strauss, Günther Anders oder Hannah Arendt bis zur satirischen Parodie des Heideggerschen 'Sprachspiels' in der Gegenwartsliteratur. Die Berücksichtigung des frühen und des späten Denkens ist in etwa gleichmäßig verteilt, wobei bestimmte Schwerpunktsetzungen nicht zu vermeiden sind, wenn es um eine nachvollziehbare Beurteilung seines spezifischen Beitrags zur philosophischen Diskussion gehen soll. Doch bemühen sich sämtliche Autoren darum, Kontinuitäten und Kontraste zwischen den Denkphasen herauszuarbeiten. Etwas aus dem Rahmen fallen hier lediglich die beiden Texte von Manfred Riedel und Friedrich Kittler, wobei sich ersterer allzu wohlwollend auf die merkwürdigen Feldweg-Gespräche (1944/45) einlässt, die er sogar in die Nähe platonischer Dialoge zu rücken versucht; während letzterer die durchaus interessanten Perspektiven für die zukünftige Medien- und Technikgeschichte durch seine eigenen Stilübungen mehr verstellt als erhellt. Dennoch handelt es sich bei den einzelnen Aufsätzen größtenteils um gelungene Darstellungen des gesamten Wirkens, die auch eigenständige Deutungsansätze wagen und mitunter nicht vor scharfer Kritik zurückschrecken: So rechnet etwa Rainer Marten mit seinen intensiven Interpretationen zu "Der Begriff der Zeit" (1924) und "Zeit und Sein" (1962) mit Heideggers Thanoto- beziehungsweise Chrono-Ontologie ab, deren systematische Defizite sich hier auf engstem Raum konzentrieren. Erwähnenswert ist auch der etwas längere Artikel über das Hauptwerk "Sein und Zeit" (1927) von Thomas Rentsch, der mit seinen dreißig Seiten eine konzise Einleitung in das vielschichtige und wirkungsmächtige Buch darstellt. Etwas knapp fallen dagegen Dorotheas Fredes Ausführungen zum 'Sein' beziehungsweise zur 'Wahrheit' aus, deren Eigentümlichkeit und Stellung in Heideggers Philosophie durchaus eine intensivere Auseinandersetzung verlangt hätte. Geradezu langatmig widmet sich demgegenüber Kathleen Wright den Hölderlin-Vorlesungen, dessen Heroisierung als verborgener Hintergrund für Heideggers Verhältnis zu Hitler gelten könne. Als Gegengewicht zu dieser zeitgenössischen Verstrickung wirkt hier eine vorsichtige Rezeption im Rahmen sozialphilosophischer und -wissenschaftlicher Debatten um Individualität und Kulturalität, doch scheint Heidegger auch da jeglichem Zeitgeist immer schon einen Schritt voraus zu sein. Alles in allem überzeugen die einzelnen Abhandlungen dadurch, auf begrenztem Raum sowohl den aktuellen Forschungsstand, als auch die eigene Perspektive der Auslegung deutlich zu machen.

Trotz des etwas unhandlichen Formats handelt es sich bei dem Heidegger-Handbuch daher um ein hilfreiches Instrument für die kritische Beschäftigung mit seinem zur Selbstimmunisierung neigenden Denken, das zugleich als Nachschlagewerk zu zentralen Texten und Themen verwendet werden kann. Da es in der Philosophie nicht um die Übernahme, sondern eine Überprüfung von Thesen und Theorien geht, sind auch die jeweils vom (Vor-)Verständnis der VerfasserInnen abhängigen Artikel hier mehr als Denkanstöße und weniger als Informationsquellen zu verstehen.

Titelbild

Dieter Thomä (Hg.): Heidegger Handbuch. Leben-Werk-Wirkung.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2003.
574 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-10: 3476018040

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