Combray im Schnelldurchlauf

Michael Kleebergs Proust-Übersetzung als Hörspiel

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Prousts Sprache besitzt keine Fin de siècle-Patina, das ist Rechel-Mertens" - so das Bekenntnis des Schriftstellers Michael Kleeberg, der im vergangenen Jahr die vierte deutsche Übersetzung von "Combray" vorgelegt hat, dem Beginn von Marcel Prousts Romanzyklus "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit". Der aus den fünfziger Jahren stammenden (und erst jüngst im Rahmen der Neuen Frankfurter Ausgabe sorgfältig revidierten) Übersetzung von Eva Rechel-Mertens wirft der Autor vor, das Original weichgespült zu haben. Kleebergs Übertragung ist demnach eine Fassung, die zwar ungezuckert und ungeschminkt daherkommt, dafür aber an etlichen Stellen eigenwillig, ungehobelt oder schlicht sperrig wirkt. Der Bayerische Rundfunk hat den Mut besessen, daraus ein gänzlich patinafreies - und inzwischen preisgekröntes - Hörspiel zu machen.

Obgleich die deutsche Proust-Rezeption in den letzten zwanzig Jahren durch das Engagement zahlreicher Forscher und Enthusiasten prächtig gediehen ist, gilt eine Faustregel wie ehedem: Es gibt hierzulande nur wenige Menschen, die viel Proust lesen, hingegen viele, die nur wenig Proust gelesen haben. Vor allem an letztere richten sich die drei jüngst erschienenen CDs des Hörverlags. Sie wollen Appetit machen auf die Proust-Lektüre - und allen, die bislang die Geduld für 4.000 Seiten "Recherche" nicht aufbringen konnten, den Einstieg erleichtern.

Dies geschieht zunächst durch zahlreiche Geräusche, die der Anschaulichkeit dienen und das Verständnis befördern statt unnötige oder artifizielle Kontraste heraufzubeschwören. Läuten im Text die Glocken zum Essen, dann tun sie dies auch in diesem Hörspiel, pfeift ein Zug durch die Weite der öden Landschaft, so vernehmen wir dies ebenso wie die Vogelstimmen im Garten oder den einsetzenden Regen. Auch sind die einzelnen Charaktere durch ihre wörtlichen Reden gut vom Ich-Erzähler unterschieden. Was im fortlaufenden Text als Zitat erscheint, kommt so leibhaftig auf die Hörbühne. Der Großvater, der seinen verbotenen Cognac genießt, Onkel Adolphe, der sich mit Odette vergnügt, Monsieur Swann, dessen Kunstgeschmack bewundert wird, oder die tief im bäuerlich-katholischen Frankreich verwurzelten Dienstmägde: Allenthalben verlebendigt sich die Darbietung, weil diese und andere Personen im Vergleich zur Buchlektüre nicht bloß Erzählgegenstand sind, sondern von Schauspielern leibhaftig verkörpert werden. Die begleitende Musik (vor allem Klavier- und Klarinetten-Soli) dramatisiert das Geschehen opernartig wie in einem guten Fernsehkrimi. Oft überlagert sie den Text jedoch auf unvorteilhafte Weise, wirkt nicht mehr unterstützend, sondern drängt sich in den Vordergrund. Gänzlich überflüssig erscheint ein bisweilen zu hörender Sprecher, der die geschmeidigen französischen Originalstellen als jeweiligen atmosphärischen Hintergrund rezitiert. Dies ruft einerseits den Umstand schmerzlich in Erinnerung, dass es sich bei der deutschen Übertragung nur um etwas nachträglich Abgeleitetes handelt, andererseits lenkt es ab vom Verständnis der zeitgleich vorgetragenen deutschen Textpassage.

Mit der Absicht, die schwere Süße der Rechel-Mertens-Übersetzung zu neutralisieren, gehen Kleebergs Übersetzung und deren Interpretation durch die Sprecher an vielen Stellen eindeutig zu weit. So werden etliche für den Text zentrale Sätze gänzlich unspektakulär und teilnahmslos nüchtern wie im Vorbeigehen gelesen. Dennoch gelingt es ausgezeichnet, die Idee des partikularisierten Erzähler-Ichs zu veranschaulichen. Durch die mehrstimmige Vortragsweise entsteht eine Art polyphoner Abwechslung, die im Vergleich zu einem monoton vorlesenden Erzähler allerdings auch eine gehörige Temposteigerung mit sich bringt. Es ergibt sich eine rasante Geschwindigkeit, die bei einstimmiger Lektüre kaum zumutbar wäre. Fast meint man, als wolle dieses Hörspiel durch einen Tritt auf das Gaspedal all jene Leser entschädigen, die keine Geduld für die langsam voranschreitende "Recherche"-Lektüre aufbringen konnten. Als wohltuender Ausgleich wirken Stellen, deren poetischer oder auch verschwörerisch-ironischer Flüsterton der Tonalität der Vorlage vollends entspricht. Hier öffnet sich das Selbst, der Zuhörer kann in sein eigenes Erleben eintauchen und eine bei Proust zentrale Botschaft verinnerlichen: nämlich dass alles, was wir außerhalb unserer gesucht haben, nur in uns zu finden ist.

Titelbild

Marcel Proust: Combray. 3 CD.
Der Hörverlag, München 2003.
160 min, 24,95 EUR.
ISBN-10: 3899401859

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