Wenn Krabben zu sehr lieben

Grégoire Solotareffs köstliche Sommer-Kalender-Geschichten

Von Wilfried von BredowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wilfried von Bredow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn schon lakonisch, dann aber saftig! In jedem Absatz, jedem Satz, ja jedem Wort passiert etwas. Unglaublich, wieviel in eine Kürzestgeschichte an Action, an Gefühlen, an Wiedersehensfreude und an Unerhörtem hineingeht, wenn man sie so meisterhaft beherrscht wie Grégoire Solotareff. Nach den "Herbstgeschichten", die man auch im Sommer mit höchsten Vergnügen lesen kann, gibt es nun auch die frechen und witzigen "Sommergeschichten". Nichts spricht dagegen, sie im Herbst zum zweiten und dann nochmal im Winter wiederzulesen. Man kann gar nicht genug davon bekommen. Denn hier finden sich coole Weisheiten, ebenso punktgenaue Beobachten wie liebevolle Beschreibungen von allem, was einem so passiert. Die Helden dieser Geschichten - für jeden Sommertag gibt es eine, vom 21. Juni bis 22. September - heißen Idris und Chloé, Nad, Frankie und Mathilde, und es sind Krabben oder Feldmäuse oder Kobolde (so eine Art schüchterne Hobbits), aber eigentlich sind sie einfach, sagen wir: Leute. Leute mit einem heftigen Drang zu Crêpes oder Regenwürmersalat, mit Sommersprossen auf dem Bauch, in dem es zuweilen ganz heftig kribbelt, weil da zum Beispiel eine ganz reizende Koboldin ist, mit der man das eine oder andere unter vier Augen abmachen würde, am besten unter vier geschlossenen Augen. Wenn man nur wüsste, wie man ihr das beibringen soll.

Idris und Chloé zum Beispiel haben es geschafft. Sie küssen sich in den Wellen. Einerseits hingebungsvoll. Aber andererseits wissen sie gar nicht, ob sie sich küssen oder streiten, wenn sie sich küssen. Das macht sie unglücklich. Ende der Geschichte. Und bevor man "Was lehrt uns das?" sagen kann, ist man schon in die nächste Geschichte verstrickt, da geht es um zwei philosophierende Feldmäuse. Und in der folgenden stößt man auf den rätselhaften Satz "Mäuse haben nämlich ein Problem mit Armbanduhren". So ist das wohl. Solotareff scheint über einen unerschöpflichen Vorrat an Geschichten zu verfügen und hat eine eigene Methode entwickelt, Albernheit und Hintersinn, Humor und eine Prise Weltschmerz, Zärtlichkeit und Selbstironie auf höchst bekömmliche Weise zu kombinieren. Das Flair dieser Geschichten ist übrigens sehr französisch. Über das Essen, über Klamotten und über die Liebe wird so geredet wie in den Filmen von Jacques Rivette und Eric Rohmer, genauso ernsthaft und genauso verspielt, nur weniger prätentiös. Und die Erwachsenen und Kinder, die das lesen, diese deftigen Dialoge und leichthin, aber präzise geschilderten Gemütszustände und -veränderungen, müssen einfach kichern, obwohl es auch melancholische Geschichten gibt, etwa wenn es mit der Verständigung nicht klappt, weil jeder etwas anderes meint, selbst wenn dieselben Worte benutzt werden. Kein einziges Mal wird hier moralisiert, und selbst den Blödians bleiben Vorwürfe erspart.

Man braucht es nicht, aber wer will, kann sich auch auf die Suche nach tieferen Einsichten begeben. Dass man auch in der Heimat fremd werden kann und dass der Fremde die eigenen Gewohnheiten zwar vielleicht ein bisschen stört, aber im Endeffekt das eigene Leben und das der Freunde bereichert, dass Freundschaft und Zuverlässigkeit der Kitt des Zusammenlebens sind und dass man schließlich gar nicht so selten das, was man doch eigentlich tun will, einfach nicht über sich bringt - kein Wort steht davon in den "Sommergeschichten". Aber wer sie gelesen hat, bekommt davon mindestens eine Ahnung. Lauter kluge Einsichten so unaufdringlich und gleichsam gegen den Strich gebürstet aufblitzen zu lassen, das ist schon hohe Kunst.

Titelbild

Grégoire Solotareff: Sommergeschichten.
Übersetzt aus dem Französischen von Werner Leonhard.
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2002.
192 Seiten, 11,50 EUR.
ISBN-10: 3806749671

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch