Eine Fülle von Texten

Volker Hage über die Schriftsteller und den Luftkrieg

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer über Geschichte spricht, spricht stets auch über Gegenwart. Wer darüber spricht, wie über Geschichte zu sprechen sei, betreibt - mag er wollen oder nicht - Politik. Die Debatte über die alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg, die seit W. G. Sebalds Zürcher Vorlesung zu deren angeblich mangelnder Repräsentanz in der Literatur immer neue Bücher hervorbringt, ist noch in der privatesten Erinnerung Geschichtspolitik.

Die Spannbreite ist dabei groß und reicht vom skrupulösen Sebald bis hin zur effekthascherischen Inszenierung der Deutschen als Opfer, die in "Krematorien" verbrannt seien, so Jörg Friedrich in "Der Brand". Fast alle Beiträger geben vor, ein Tabu zu brechen: ein Tabu, das jahrzehntelang die Thematisierung deutschen Leids verhindert habe. Die Luftkriegsdebatte steht schon dadurch im Zusammenhang mit anderen Selbstinszenierungen der Deutschen als Opfer: der Aktualisierung der Vertriebenenthematik etwa, die in der Literatur in Grass' "Krebsgang"-Novelle ihren meistbeachteten Ausdruck fand.

Vor allem die Massierung solcher Geschichtspolitik weckt Unbehagen; in den einzelnen Beiträgen wird zuweilen, nicht immer, durchaus klug differenziert. Volker Hage hat sich in mehreren Publikationen in den letzten Jahren mit der literarischen Darstellung des Luftkriegs befasst und ist mittlerweile Spezialist auf diesem Gebiet. Vorliegender Band bringt eine Reihe von Essays, die zusammen eine Stoffgeschichte der deutschsprachigen Literatur, ergeben und zahlreiche Interviews. Gesprächspartner Hages waren Autoren, die zumeist als Kind Bombardierungen erlebten und reflektieren, wie darüber zu schreiben sei. Doch auch andere Perspektiven sind vertreten. Für Marcel Reich-Ranicki, verfolgter Jude im Warschauer Ghetto, bedeutete jeder Angriff eine Schwächung seines Feindes; der Niederländer Harry Mulisch und der US-Amerikaner Kurt Vonnegut schrieben aus der Außenperspektive über den Bombenkrieg.

Hages Buch lässt sich, im Gegensatz zu manchen anderen Veröffentlichungen zu dieser Thematik, nicht in einen deutschen Opferdiskurs integrieren. Ein Brecht-Gedicht leitet mottoartig die Essays ein: "Das sind die Städte, wo wir unser "Heil!" / Den Weltzerstörern einst entgegenröhrten. / Und unsere Städte sind auch nur ein Teil / Von all den Städten, welche wir zerstörten." Die deutsche Kriegsschuld bleibt unbestritten, und mehrfach ist erwähnt, dass zuerst die deutsche Luftwaffe Wohngebiete massiv bombardierte. Vielleicht etwas unterrepräsentiert ist bei Hage die strategische Bedeutung der alliierten Luftangriffe - der Historiker Kurt Pätzold, als Jugendlicher selbst im Zielbereich der Bomber, hat jüngst darauf verwiesen, dass die Luftschläge keineswegs wirkungslos waren. Sie banden Luftschutztruppen und Geschütze, die Deutschland an der Front fehlten, und sie trugen, wenn auch allzu spät und neben dem bestehenden Rohstoffmangel, dazu bei, Deutschlands Kriegsproduktion fast auf Null zu reduzieren. Die Angreifer zudem waren Kämpfer - den ungefähr 600.000 deutschen Opfern stehen etwa 100.000 amerikanische und britische Flieger entgegen, die ihr Leben verloren.

Eindrucksvoll, und diesen Widerspruch gilt es auszuhalten, sind gleichwohl die Interviews; Schilderungen des Erinnerten, etwa bei Wolf Biermann oder Dieter Forte, machen das Ausmaß des Schreckens nachvollziehbar und lassen gleichzeitig vermuten, welches Maß an Verdrängung nicht nur eigener Schuld, sondern auch eigenen Erlebens hinter den Aufbauleistungen der Nachkriegsjahrzehnte stand. Jetzt aber verwerfen fast alle der Gesprächspartner Hages das Diktum Klaus Harpprechts, das Schweigen über diese Dinge verberge eine Scham, die kostbarer sei als alle Literatur - kaum überraschend, denn natürlich befragte Hage gerade jene Autoren, die sich schon zuvor zum Thema geäußert hatten.

Ungleichmäßig ist der Wert der einzelnen Essays. Am überzeugendsten gerieten die Kapitel, die sich mit den unmittelbaren Reaktionen in der Kriegszeit und den ersten Nachkriegsjahren befassen; präzise arbeitet Hage Fragwürdigkeiten beim allzu schnell kanonisierten Wolfgang Borchert oder bei Hermann Kasack heraus, er zeigt auch, wie Erich Maria Remarque in seinem Roman "Zeit zu leben und Zeit zu sterben" 1954 auf Druck des Verlegers Passagen politisch entschärfte und trotzdem von einer revisionistischen Kritik abgelehnt wurde. Hage zeigt auch, warum 1956 die vielleicht überzeugendste literarische Verarbeitung der Bombardierungen, Gert Ledigs "Vergeltung", wegen der Verweigerung jeglicher Sinnstiftung abgelehnt werden musste.

Je näher Hage der Gegenwart rückt, desto mehr erliegt er der Gefahr einer reinen Stoffsammlung. Das ist zum einen nützlich: für alle, die mehr zum Thema lesen wollen, vor allem aber zur Abwehr der Legende von einem Tabu, über den Luftkrieg zu schreiben. Es ist dieser Aspekt der Darlegungen Sebalds, den Hage vor allem für angreifbar hält, und tatsächlich stellt er ausreichend Material bereit, in diesem Punkt Sebald zu widerlegen. Es gab kein Problem der Produktion, es gab freilich eines der Rezeption. Das Thema zog über Jahrzehnte nicht die Aufmerksamkeit der Feuilletons auf sich. (Hier wäre vielleicht eine Parallele zur Kulturpolitik der Vertriebenen zu ziehen. Obwohl gerade während der Kanzlerschaft Kohls mit absurden Beträgen gefördert, blieb doch das öffentliche Interesse gering.)

Wo Hage überhaupt Inhalte akzentuiert, vermisst man Begründungen. Hage sieht in Ralph Giordanos Roman "Die Bertinis" (1982) und Ingeborg Hechts Memoiren "Als unsichtbare Mauern wuchsen" (1984) erstmals die "Perspektive der doppelten Gefährdung" gezeigt, das Erlebnis von Verfolgten des Nazi-Regimes, den Waffen ihrer erwarteten Befreier ausgesetzt zu sein. Es fehlt gerade an dieser Stelle, wie überhaupt, eine der wichtigsten Schilderungen des Bombenkriegs: Im dritten Band der "Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss (1981) teilt die Kommunistin Lotte Bischoff, die sich in politischem Auftrag freiwillig wieder ins Land ihrer Verfolger begeben hat, einen Luftschutzbunker mit der Bevölkerung, für deren Befreiung sie kämpft, die zum großen Teil diese Befreiung als Niederlage werten wird. Sie ist verfolgte Widerständlerin unter den Menschen, für und gegen sie kämpft, bombardiert von jenen, deren Macht für die Befreiung gebraucht wird und deren Freiheit sie als Kommunistin doch als imperialistisch erkennt. Besonders Weiss, der beim Schreiben seines großen Romans physisch mit seinen Figuren litt, erfasste die Widersprüche des Jahrhundertkonflikts genauer als Autoren, die das individuelle Erleben absolut setzen.

Die Lücke verweist auf ein grundlegendes Problem. Hage ist weniger Unvollständigkeit vorzuwerfen (diesen oder jenen Text dürfte wohl immer noch jemand vermissen) als fehlende historische Einordnung. Warum trat diese Konstellation Anfang der achtziger Jahre hervor? Eine Antwort auf die Frage fehlt ebenso wie eine Reflexion, welche Funktion die Erinnerung an den Luftkrieg in den Jahren seit 1997 hatte. "Offenbar war in den neunziger Jahren, nach der Wende, ein neuer Blick zurück möglich geworden, ja zwingend geboten", meint Hage. Die Begründungen, die er an dieser Stelle gibt - das Sterben der im Krieg Erwachsenen, das Altern selbst derjenigen, die die Angriffe als Kinder erlebt hatten - befriedigen indessen nicht. Wessen Geschichte niemand hören will, der stirbt eben allein; zu erklären wäre also, weshalb man plötzlich hören will. "Die neunziger Jahre, das ist oft beschrieben worden, ließen in Deutschland viele politische und damit kulturelle Gewißheiten in sich zusammenbrechen, an die sich auch und gerade Schriftsteller und Intellektuelle geklammert hatten." Bestreiten mag man das nicht, hätte es aber gerne genauer: welche Gewissheiten sind gemeint, wer ließ sie zusammenbrechen (denn ein Jahrzehnt ist kein Akteur), und in welchem Interesse? Waren sie wirklich nur Notbehelfe, an denen man sich aus Angst vor einer eigentlichen Freiheit "festklammerte", hatten sie nicht ihre politische Funktion, könnten sie nicht heute noch nützlich sein?

Ein leider nur kurzer Exkurs zu den Bomberangriffen der NATO auf Jugoslawien hilft wenig weiter. Hage belegt zwar, dass 1999 die Erinnerung an den Luftkrieg zu verschiedenen politischen Optionen leiten konnte: Kritik an der NATO wie bei Dieter Forte oder Christa Wolf, Unterstützung der Attacken wie bei Hans Magnus Enzensberger. Freilich erfährt man allein einen Katalog von Meinungen. Eine weitergehende Reflexion über einen möglichen Zusammenhang zwischen Luftkriegsdebatte und der Militarisierung der deutschen Außenpolitik genau im selben Zeitraum fehlt leider, ebenso wie ein Rekurs darauf, dass seit einem guten Jahr erstmals seit Kriegsende eine deutsche Außenpolitik ohne oder sogar gegen die angelsächsischen Mächte bis weit in die gesellschaftlichen Eliten hinein diskutiert werden kann.

So liefert Hage viel Material zur Literatur über den Luftkrieg. Sein Buch kann den Weg zu weiterer Lektüre weisen und ist in den literarischen Wertungen zuverlässig und anregend. Je näher Hages Literaten der Gegenwart kommen, sich desto mehr äußern sie sich scheinbar im gesellschaftsfreien Raum. Die Kontextualisierung dieser Literatur bleibt also noch zu leisten.

Titelbild

Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essays und Gespräche.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
300 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3100289013

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