Der Meisterfluch

Atle Næss Versuch, "Caravaggios Flucht" zu erklären

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ungemütlich, wie die Gegenwart ist, treibt sie geradezu in den Schoß der Vergangenheit. Im Historischen Roman genießt der Leser die geschützte Sphäre des Gewesenen besonders, wähnt er sich doch in dem Glauben, etwas über Geschichte und ihre bedeutenden Figuren zu lernen, während er gleichzeitig unterhalten wird. Dass die Vergangenheit eine heroischere Zeit war, in der Großes vollbracht wurde, in der Tragik und Schicksal Worte mit Klang waren, reizt spät geborene Leser zivilisierter Langeweile mindestens ebenso.

Viel liebloses Zeug wird in diesem Genre verbrochen, dürftig recherchiert und wenig bis gar nicht reflektiert; nicht selten liegt nur eine Leichenfledderei vor. Im Gegensatz zu den Grabkammern der Pharaonen allerdings erschöpft sich der Ruhm der Helden auch nicht nach dem zwanzigsten Überfall. Jeder Autor historischer Romane rechnet zu Recht damit, dass ein Teil des Ruhms von Alexander, Cäsar, Napoleon, Michelangelo, Goethe oder Kafka auf seine Arbeit abstrahlen werde. Allerdings gibt es auch Meisterwerke der Gattung, diese wachsen aber in der Regel - wie Thomas Manns "Joseph"-Tetralogie aufs Schönste beweist - weit über die engen Grenzen des Genres hinaus.

Soviel Vorrede ist nötig, um Atle Næss und sein Büchlein - 157 Seiten, einschließlich Anhang - einzuordnen, dessen Held ein ideales Objekt historischer Projektionslüste ist. Was Carlo Gesualdo di Venosa in der Musik, das ist Michelangelo Merisi da Caravaggio (1570?-1610) in der Bildenden Kunst: Genie und Mörder zugleich. Schon zu Lebzeiten erregte er gleichermaßen Aufsehen als Maler wie als sittenloser Herumtreiber. Seine faszinierende Manier, die extrem folgenreich für den Manierismus und naturalistische Tendenzen der Malerei war, schien das hehre Gegenstück zu seinen mangelhaften Manieren zu sein. Mehrfach, so berichten die, oft missgünstigen Zeitgenossen, sei er ins Gefängnis geworfen worden, häufig in Streit und Kämpfe geraten. Überhaupt war er ein gern gesehener Gast in der Gerüchteküche, als Gericht wie als Koch. Notwendig widersprechen sich deshalb die wenigen Zeitzeugen in vielen Punkten. Einigen konnte man sich aber darauf, dass er einen Mann erstochen habe und deshalb aus Rom fliehen musste. Die Umstände der Tat sind so unklar wie der Tod Caravaggios auf der Flucht.

Durchaus geschickt macht Næss die unsichere Überlieferungslage produktiv, indem er in guter alter Herausgeberfiktion angebliche Zeitzeugen widersprüchlicher Art nacheinander präsentiert, um aus den Details der Einzelmeinungen ein Porträt des Künstlers entstehen zu lassen. Berichte eines naturwissenschaftlich interessierten Freundes erfindet er, der mit Galileo Galilei in engem Kontakt steht, dazu lässt er, weniger ausführlich, Huren, den Bruder Caravaggios, einen Maler-Saufkumpan, dazu Peter Paul Rubens und einen Buchhändler zu Wort kommen.

Zeitkolorit und Lokalkolorit möchte Næss beschwören als dunklen Kontrast, vor dem die künstlerische Intensität Caravaggios um so heller leuchten soll. Detailliert lässt er die Gemälde beschreiben - nicht immer glücklich und zutreffend - und die Umgangsformen des wilden Malers. Dabei stützt er sich auf aktuelle Forschungen, aber auch auf Gerüchte und Klischees wie das von "Genie und Wahnsinn". Allzu grob und pastos fällt also das Porträt aus. Næss gab sich auch einfach zu wenig Mühe, die verschiedenen Aussagen wahrscheinlich zu machen. Oder was soll man von einem Italiener halten, der "bruschetta" und "stoccafisso" erklärt? Wieso sollten in Berichten, wahrscheinlich für die Inquisition, immer wieder stimmungsvolle Schilderungen gegeben werden? Wie kann ein vergleichsweise simpler Mönch wie Caravaggios Bruder dessen Malerei, die er zudem so wenig zu kennen vorgibt wie die Wissenschaften, mit Keplers ketzerischer Astronomie-Revolution vergleichen? Dialoge werden unglaubhaft ausführlich wiedergegeben, die Gossensprache wirkt eher albern, die Verschwörungstheorien - die Inquisition solle den Maler auf dem Gewissen haben - achtlos ausgedacht. Vor allem fehlt jedem Bericht seine eigene klare Stimme und damit seine Überzeugungskraft.

Bei Næss läuft alles auf die These hinaus, Caravaggio sei der Galileo der Leinwand gewesen (oder der Kepler, der Kopernikus usw.); das klingt aber besser, als es ausgeführt wurde. Wirklich zuzustimmen ist dem Autor allein in seiner Schluss-Aussage: "Die Bilder sprechen noch, oder, was noch beunruhigender ist: Es spricht durch sie." Durch das Buch sprechen sie leider nicht.

Man hätte gute Lust, einen Bannfluch auszusprechen, dass sich, mit Lessing zu sprechen, nur das Genie dem Genie künstlerisch nähern dürfte, so wie in diesem Falle Derek Jarman mit seinem verstörend-wundervollen Film "Caravaggio".

Titelbild

Atle Naess: Caravaggios Flucht. Roman.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Angelika Gundlach.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
157 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-10: 3458171711

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