Ungestalt hat kein Aussehen

Valentin Groebner über visuelle Gewalt im Mittelalter und Früher Neuzeit

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nur selten findet man Historiker mit einem so wachen Blick für die eigene Gegenwart wie Valentin Groebner; noch seltener mag die Begabung sein, thematische Luftlinien zwischen gestern und heute zu ziehen. Beides bietet der vorliegende Band über Wahrnehmung und Ausübung von Gewalt im Spätmittelalter und Früher Neuzeit, vorgestellt in drei Ansätzen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Da ist einmal das Thema der Macht, die sich Zeichen gibt und der verborgenen Opposition, die dasselbe tut. Da ist zweitens das groteske Phänomen des Nasenabschneidens im Sinne einer Ehrabschneidung, meist sexuell konnotiert. Da ist schließlich drittens das Bild des Gekreuzigten in der theatralischen Kultur der Epoche, seine religiös bewegte Inszenierung. Alle drei Themen erlauben Groebner erhellende Blicke auf unsere eigene Szene. Die Praxis des Gesichtsverlusts mündet in vergleichbar krude Akte der Gesichtsverstümmelung durch rassistische Imagination in den dreißiger Jahren; das unheimliche Verschwinden des Gegners erfahren wir heute in der Gestaltlosigkeit des Al Qaida-Terrors; und schließlich die "Visuelle Kultur" um den Gekreuzigten wie auch um die Behandlung von Gegnern im Kriege ist das exemplarische Vor-Bild zu jenen Kontemplationen, die Susan Sontag soeben in ihrem Buch "Das Leiden anderer betrachten" ausgeführt hat. Alle drei, nein vier Themen bieten ein anschauliches Plädoyer für die These, dass Bildzeichen und -gebrauch viel eher zutiefst im Leben verankert, als mit der stillstellenden Aura des Todes versehen sind, wie manche Bildtheorie heute glauben will.

Getragen ist all dies von einer profunden Kenntnis der mittelalterlichen Verhältnisse samt den Irrwegen ihrer Deutung. War das Mittelalter eine Periode ungezügelter Leidenschaften und Gewalt? Viele Historiker, darunter so renommierte wie Johan Huizinga, möchten den Eindruck erwecken. Doch wie Groebner zeigt, haben sie sich von den inszenatorischen Kräften täuschen lassen. Es gehört zu den spannendsten Passagen dieses Buches zu sehen, wie beliebt das Metier der vielfältigen Täuschungen, der Doppelgängerei war, das selbst auf den leidenden Christus angewandt wurde. Höchst überzeugend ist daher die Ermahnung, dass eine Geschichtswissenschaft, die sich nur auf Texte (oder Bilder) bezieht, die wirkliche Praxis nicht vergessen darf. Etwa die Tatsache, dass die meisten rechtsverbindlichen Texte im Mittelalter nur für wenige Auserwählte lesbar waren. Viel wichtiger waren die mannigfachen mündlichen Absprachen, die häufig aus Gründen regionaler Kompetenz dem Geschriebenen widersprachen. Dass Groebner hier gerne von "Unsichtbarkeit" spricht statt von Mündlichkeit, oder an anderer Stelle von Einbildung, ist eine der wenigen Einwände, die man erheben könnte.

Aber der trifft womöglich doch in ein Zentrum. "Kultur ist Gebrauch, eigennütziges und oft zynisches management of meaning, das von konkreten Personen durchgesetzt wird": unter dieser Prämisse will Groebner die modische Neigung zur dekonstruktiven Symboldeutung abwehren. Doch diktiert diese nicht schon sein eigenes Unternehmen?

"Ungestalt" heißt der Titel des Buches, und "Ungestalt hat kein Aussehen", steht im Vorwort. Dennoch will uns der Autor über die "visuelle Kultur der Gewalt" unterrichten. Ein Paradoxon der Fragestellung oder des Mittelalters? Natürlich haben auch entstellte Körper noch ein Aussehen, auf dessen Entstellung die körperliche Gewalt gerade abzielt. "Ungestalt", will uns der Autor vielleicht sagen, resultiert als Verlust von Ansehen durch jenen von Aussehen. Ansehen, Geltung, Würde sind aber vormediale, vor allem sprachliche Kategorien. Wer als Würdenträger in einem Bild erscheint, hat sein Ansehen immer schon erworben und zwar durch erzählbare Leistungen. Auch wer, umgekehrt, eine Nase verliert oder an den Schandpranger gestellt oder im Krieg zerstückelt wird, gehört in eine verbalisierbare Handlung mit Gründen und Motiven, nicht nur in sichtbare Verläufe und Techniken. Nicht als ob Groebner uns mit Geschichten im Stich ließe; schließlich hat er mit Verve ein historiographisches Buch geschrieben. Nur stellt sich die Frage, ob die Formel von der "visuellen Kultur" nicht allzuviel in sich fasst, wenn sie Sprache und Einbildung als Phänomene der Unsichtbarkeit einbezieht. Gefährlich nahe kommt er so dem Moloch der "Visual Studies", in die sich momentan die angelsächsischen "Cultural Studies" ohnehin auflösen.

Titelbild

Valentin Groebner: Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
203 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446203737

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