"Blitzeis" war kein Einzelfall

Peter Stamms zweiter Erzählband "In fremden Gärten"

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er hat es wieder einmal geschafft - so kann man eine Besprechung des neuen Buches von Peter Stamm durchaus beginnen, auch wenn es ein wenig zu sportlich klingen mag. Was hat er denn geschafft? Er hat erneut ein Buch vorgelegt - nach einem Roman nun wieder Erzählungen, das scheint sein Rhythmus zu sein, Roman-Erzählungen-Roman-Erzählungen -, auf das man als begeisterter Stamm-Leser ungeduldig gewartet hat, das man aber auch mit ein wenig Furcht in die Hand nimmt, weil man fast nicht glauben kann (aber so gern glauben möchte), dass es einen wieder so fesseln, wieder so überraschen, wieder so begeistern wird, wie es die drei anderen schon taten.

Deshalb kann man diese Rezension so beginnen.

Elf Erzählungen versammelt der Band "In fremden Gärten", ich werde hier nicht auf alle eingehen. Viele Elemente kennt man aus "Blitzeis", dem ersten Erzählband Peter Stamms, z. B. die Melancholie der Figuren, die manchmal fast fassbare, dann aber doch noch entschwindende Aura der Einsamkeit oder Verlassenheit der Personen. Aus den Romanen "Agnes" und "Ungefähre Landschaft" kennt der Leser die unterschiedlichen Handlungsorte (hier bietet sich eine Vergleichsmöglichkeit mit Judith Hermann an, die in ihrem zweiten Erzählband ihre Protagonisten ebenfalls in viele Winkel der Erde schickt). Und Peter Stamm verblüfft erneut mit einer unglaublichen Souveränität im Umgang mit der Sprache. Schnörkellos und ohne jeglichen Sprachballast sind seine Geschichten, handwerklich perfekt gearbeitet, doch trotzdem nicht leblos wie ein Monolith. Gleich die erste Erzählung, "Der Besuch", zieht den Leser in das Buch hinein. Eine alte Frau, Witwe, der das Haus zu groß geworden ist, seit die Kinder ihre eigenen Wohnungen haben, hat ihre Enkelin und deren australischen Freund für eine Nacht zu Gast. Es passiert nichts, Stamm schildert die alte Frau, das Haus, die Atmosphäre, schwenkt dann zu ihrem 75. Geburtstag und dem sich daran anschließenden Übernachtungsbesuch. Die Art, wie der Autor einen Weihnachtsabend, den die alte Frau erstmalig alleine verbringt, schildert, ist gleichzeitig kunstvoll und genauestens der Realität abgeschaut. Da spürt man die Traurigkeit förmlich, obwohl sie sich bei der Hauptperson der Erzählung gar nicht äußert.

"Wie ein Kind, wie ein Engel" heißt eine im Vergleich zur erstgenannten bizarre Erzählung, in der Eric, die Hauptfigur, im Taxi zum Flieger nachrechnet, wieviele Menschen statistisch gesehen in der vorigen Nacht gestorben waren. Er arbeitet bei einem Schweizer Großkonzern und reist das ganze Jahr über zu den Tochterfirmen. In einem osteuropäischen Land trifft er auf einen Kollegen, der ihm sehr zugetan ist und der eine sehr schöne Frau hat. Eines Tages, erhält er von diesem Kollegen einen Brief, in dem dieser ihn um Hilfe bei der Therapie des Krebsleidens seiner Frau bittet. Die Hilfe müsste finanzieller Art sein, die Therapie kostet ca. 100.000 Franken, Heilungschancen maximal 30 Prozent. Die beiden Männer treffen sich wieder, keiner erwähnt den Brief und die Krankheit, sie arbeiten zusammen, gehen essen und trinken, der Kollege ist am Ende des Tages völlig betrunken. Eric bleibt alleine im Hotel, der ,Fall' bleibt ungelöst, lediglich der Anfang der Geschichte, die Taxifahrt zum Flieger, deutet daraufhin, was geschehen sein könnte. In der Andeutung und der daraus resultierenden Vermutung verbirgt der Autor das alltägliche Grauen: die Angst vor dem Tod, die Scheu, über den Tod zu reden, die Verdrängung.

Peter Stamm hat in "In fremden Gärten" erstmalig nicht nur junge oder jüngere Menschen zu seinen Hauptfiguren gemacht, er beschäftigt sich nun auch mit älteren Menschen, deren Leben und Gewohnheiten. Und er beschäftigt sich mit dem Tod und wie wir mit ihm umgehen bzw. eben nicht umgehen. Dieses neue Buch ist sein ernstestes, das zu lesen jedoch großen Genuss bereitet!

Titelbild

Peter Stamm: In fremden Gärten. Erzählungen.
Arche Verlag, Hamburg 2003.
154 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3716023175

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