Zwischen expressionistischer Vision und amerikanischer Revue

Georg Kaiser zum 125. Geburtstag

Von Dagmar Lohmann-HinrichsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dagmar Lohmann-Hinrichs

Die seltenen Inszenierungen seiner Werke auf heutigen Bühnen erinnern gelegentlich noch an den einstigen Star unter den Dramatikern der Weimarer Republik: Georg Kaiser, geboren am 25. November 1878 in Magdeburg. Der verblasste Ruhm mag ein Resultat seines als "diffus" und "ziellos" (Durzak) geltenden Gesamtwerks sein. Er mag aber auch mit einer Rezeption zusammenhängen, die in ihm bloß den "Zeitdramatiker" sah, der mit sicherem Gespür intellektuelle Moden und literarische Trends zu nutzen wusste. Mit rund 40 Uraufführungen beherrschte Kaiser neben Hauptmann und Brecht die Theaterbühnen zwischen 1917 und 1933. Nach wie vor gilt er bis heute als einer der maßgebenden Dramatiker des deutschen Expressionismus, obwohl nur sein Frühwerk gattungsgeschichtlich so zuzuordnen ist.

Seinen aus heutiger Sicht auch teilweise selbst verschuldeten tragischen Lebensweg hat Kaiser aus der Rückschau im Schweizer Exil 1942 wie folgt beschrieben: "Ich überfliege mein Leben: es ist keine glatte Landschaft mit Wiesenfrieden und Wälderrauschen - nein, es ist ein zerklüftetes Gebirge mit Schneegipfeln und wüsten Abgründen. Ich stieg und stürzte ab - ich raffte mich auf und klomm wieder hinan. Wieder Sturz und nie Rast ..."

Eine komplizierte Kindheit und Jugend, geprägt von Aufbrüchen und Abbrüchen, finanziellen Abhängigkeiten und der Sinnsuche bestimmt den Lebensweg des jungen Georg Kaiser. Als fünfter Sohn eines Magdeburger Kaufmanns wächst er in gutbürgerlicher Umgebung auf. Das Verhältnis zum Vater scheint unproblematisch, dagegen das zur emotional erregbaren Mutter schwierig. Schon früh entwickelt Kaiser ein starkes Interesse für Literatur und Theater. 1894 bricht er das humanistische Gymnasium mit Sekunda-Reife ab. Er engagiert sich in antibürgerlichen Kulturvereinigungen, beginnt selbst zu schreiben und versucht sich für wenige Wochen als Buchhandelslehrling. Aus einer zweiten Lehre als Kaufmann im Ex- und Importgeschäft flüchtet er 1898 mit kaum 20 Jahren als Kohlentrimmer nach Südamerika. Neben seiner Tätigkeit als Kontorist der AEG in Buenos Aires studiert er autodidaktisch Werke Platons, Nietzsches und Schopenhauers. Eine plötzliche Malariaerkrankung zwingt ihn schließlich 1901 zur Rückkehr nach Deutschland in sein Elternhaus.

Die durch die Malaria ausgelöste gesundheitliche Schwäche sowie eine nervöse Konstitution hindern ihn an der Ausübung eines Berufes. Es beginnt eine Zeit der Abhängigkeit von der - auch materiellen - Fürsorge von Eltern und Brüdern. In dieser Zeit entscheidet er sich für den Beruf des freien Schriftstellers. Anerkennung für seine ersten Gelegenheitsdichtungen bleibt ihm jedoch zunächst versagt. Finanziell unabhängig wird er erst durch die Mitgift seiner Ehefrau Margarete Habenicht, die er im Oktober 1908 heiratet. Sein aufwendiger, bewusst dekadenter Lebensstil in Seeheim, Weimar und Tutzing verschlingt nicht nur sehr schnell das Vermögen, sondern auch eine erneute Zuwendung seiner Familie von insgesamt fast 300.000 Mark: "Mir ist es nicht verliehen, normal zu existieren". Mit diesem Verständnis von sich als elitärem Dichter-Genie fordert Kaiser bereits vor seinen ersten Theater-Erfolgen seinen luxuriösen Lebensstil als Stimulans für Kreativität im krassen Widerspruch zu seiner Verachtung der "kapitalistischen" und bürgerlichen Gesellschaft. Ein realitätsfremder Anspruch, der ihm 1920/1921 Untersuchungshaft und zwei Monate Gefängnisaufenthalt wegen Unterschlagung einbringt.

Nichtsdestoweniger will er wohl den Eindruck erwecken, als sei es gerade diese Ambivalenz zwischen hohem Anspruch und egomanischer Wirklichkeit und die daraus resultierende ständige finanzielle Not, die eine ungeheure Produktionskraft in ihm freigesetzt habe. So verteidigt er sich mit folgenden Worten vor Gericht:

"Ein großer Teil meiner Arbeiten - und deshalb darf ich nie böse sein auf meine Schandtaten - ist nur dadurch entstanden, daß ich gehetzt war, daß ich schaffen mußte. Ich durfte nie rasten, denn ich hatte Verpflichtungen zu erledigen und diese geldlichen Verpflichtungen wurden mit der Anstoß, meine Begabung zu steigern und fruchtbar zu machen und das ist das Gute daran gewesen!"

Sein fast manisches Schaffen in den Jahren 1901 bis 1920 gibt beredtes Zeugnis ab für diese problematische Haltung. Sie gibt vor, den Dichter von jeder Art moralischer Verantwortung freizusprechen und nur seinem Werk zu verpflichten.

Zwischen 1901 und 1906 entstehen etwa neun Dramen: zunächst noch in der thematischen Nachfolge von Wedekinds "Frühlingserwachen" einige Lustspiele über den Generationenkonflikt wie z. B. "Der Fall des Schülers Vehgesack" (1901/02) und "Rektor Kleist" (1905); Kaiser verarbeitet hier sein Verhältnis zum wilhelminischen Bürgertum in tragikomischer Manier. Mit der Komödie "Die jüdische Witwe" (1904), angelehnt an den Judith/Holofernes-Mythos, beginnt Kaiser eine Dramenreihe, die sich mit dem Kampf der Geschlechter auseinandersetzt. Im Gegensatz zu den Generationskonflikt-Dramen dienen Kaiser nun historische, biblische und mythische Folien als Grundlage. Nietzsches Entwurf des dionysisch Vitalen liefert den theoretischen Überbau für seine übergreifende Kulturkritik an einer verwissenschaftlichten, rationalisierten und durch die Technik entfremdeten Zivilisation. Bereits Kaisers Frühwerk spiegelt die Auseinandersetzung mit Nietzsches Umwertung aller Werte und verweist bei aller stilistischen und thematischen Schwäche dennoch auf ein großes Zeitproblem: auf die Identitätskrise des modernen Subjekts.

1911 wird erstmals, nach einigen Privatdrucken, "Die jüdische Witwe" vom S. Fischer Verlag gedruckt. Von traumatischen Erfahrungen auf dem Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges, wie sie andere expressionistische Dichter erleben, bleibt Kaiser verschont. Er wird aus Krankheitsgründen zurückgestellt, arbeitet zeitweilig beim Roten Kreuz. Noch mitten im Krieg wird sein frühes Stück "Der Fall des Schülers Vehgesack" uraufgeführt: am 11. Februar 1915 in der Neuen Bühne in Wien unter Emil Geyer.

Den langersehnten Durchbruch als Repräsentant der expressionistischen Dramatik erreicht er am 29. Januar1917 mit der Frankfurter Inszenierung (Regie Arthur Hellmer) des Wandlungs- und Erlösungsdramas "Die Bürger von Calais" (1914). In diesem "Zeitstück" proklamiert Kaiser die Vision des opferbereiten "neuen Menschen", des Topos der expressionistischen Dramatik. Kaiser bedient sich hier der historischen Überlieferung aus der Zeit des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich (1339-1945 ). Er dramatisiert den Stoff, die Selbstopferung der sechs angesehensten Bürger von Calais zur Rettung der Stadt, zu einer dialektischen Tragödie, indem er "altes" und "neues" Menschentum gegenüberstellt: Während die Vertreter der ersteren die Verteidigung durch Waffengewalt fordern, sehen die Vertreter des "neuen Menschen" die Rettung nur durch Bußgang und Opfer gewährleistet. Kaiser ändert den historisch tradierten Stoff und erweitert diese Gruppe um einen siebten Bürger, den eigentlichen geistigen "Führer", der sich als einziger schließlich stellvertretend für alle opfert. Im Zentrum steht dabei die reine Tat des freien Entschlusses: Dramatisch gestaltet wird die Wandlung einer Hoffnung der sechs Bürger auf eine eventuelle eigene Rettung durch Großmut des Feindes in die volle Bejahung und den Vollzug der Opfertat für alle durch den einen, den siebten. Am symmetrischen Aufbau der drei Akte und der distanzierten Kunstsprache sind die herausragenden Merkmale von Kaisers früher Dramatik bereits erkennbar. Auch die für den Expressionismus typische Entindividualisierung der Figuren als Metapher für die Entpersönlichung in der Massengesellschaft ist in diesem Stück bereits Stilmittel. Die überaus erfolgreiche Uraufführung katapultierte Kaiser damals in die Spitzengruppe zeitgenössischer Dramatiker, denn sie thematisierte nicht zuletzt die Erschütterung aller herkömmlichen weltanschaulichen Positionen durch die Katastrophe des Weltkrieges und seiner Kriegsmaschinerie, seiner anonymen Massentötung.

Noch stärker rezipiert wurde das 1912 entstandene Stationendrama "Von Morgens bis Mitternacht", das den scheiternden Ausbruchsversuch eines kleinen Bankkassierers aus der Monotonie seines Daseins zur konsequenten Verwirklichung seines Ichs darstellt. Das geschieht in rastloser, dynamischer Bilderfolge und atemlos verknappter Sprache. Dieses Wandlungsdrama ist durch seine Bild- und Figurensymbolik sicher eines der beeindruckendsten expressionistischen Zeitstücke, das nicht nur als einziges verfilmt, sondern auch in mehr Sprachen übersetzt wurde als "Die Bürger von Calais". Die Wandlung folgt hier nicht aus höherer Verpflichtung, sondern aus dem Konflikt zwischen dem Individuum und der Suche nach dem "wahren Leben". Darin entpuppt sich schließlich die Illusion hinter einer vom Geld beherrschten "modernen" Gesellschaft. Weitere erfolgreiche Uraufführungen sind bis 1920 u. a.: "Hölle Weg Erde" (UA 1919), sowie "Der gerettete Alkibiades" ( UA 1920).

Die Tetralogie "Die Koralle" (1916/17), "Gas I" (1917/18) und "Gas II" (1918/19), die unter dem unmittelbaren Einfluß des Ersten Weltkrieges entstanden, beschließt weitgehend Kaisers expressionistische Phase. In diesen drei zivilisationskritischen Dramen steht das Verhältnis Geld-Mensch-Technik thematisch im Vordergrund. Der Mensch hat zwar die Macht, sich durch die errungene Technik das Leben zu erleichtern, aber nicht die ethische Qualifikation für ihren rechten Gebrauch. Letztlich wird sie ihn vernichten. Die Chancenlosigkeit des "Neuen Menschen" angesichts der Macht der modernen Technik und der damit verbundenen Inhumanität birgt ungeahnte Gefahren für die moderne Zivilisation. Diese Themen sind trotz des Pathos der Sprache noch heute von beklemmender Aktualität. Kaiser, der sich in einem eher diffusen Verständnis dem Sozialismus verbunden fühlte, sah im Kapitalismus seiner Zeit keine Möglichkeit für ein unverfälschtes "wahres" Leben.

In der folgenden Periode der Neuen Sachlichkeit greift Kaiser thematisch und formal Strömungen der "Goldenen zwanziger Jahre" auf. In einem seiner erfolgreichsten Stücke während der Inflationszeit, "Nebeneinander" (UA 1923), thematisiert er in Form eines Volksstücks erneut den diesmal hoffnungslosen Versuch eines Einzelnen, einen anderen Menschen zu retten und dabei sich selbst zu opfern für eine, jetzt aber gleichgültige, Gesellschaft. Kaiser feiert Triumphe mit Komödien und Revuen wie z. B. "Kolportage" (UA 1924) und der amerikanisch beeinflussten Revue "Zwei Krawatten" (UA 1929, mit Hans Albers und Marlene Dietrich). Er arbeitet mit Kurt Weill zusammen und verfasst Filmexposés. Sein nunmehr internationaler Erfolg scheint so gesichert, dass er 1925 überlegt, das Theater am Schiffbauerdamm in Berlin als Hausbühne für seine Stücke zu erwerben. Es wird die Blütezeit nicht nur der Weimarer Republik, sondern auch ihres poetischen Chronisten Georg Kaiser, der inzwischen mit seiner Familie in Grünheide bei Berlin lebt.

Gegen Ende der zwanziger Jahre wandte sich Kaiser wieder Stoffen zu, die von der politischen Entwicklung bestimmt wurden. Die Parabel "Die Lederköpfe" (UA 1928) warnt vor der zunehmenden Militarisierung und Gewaltbereitschaft der Gesellschaft und nimmt in erschreckend bildkräftiger Vision das dunkle Antlitz des nationalsozialistischen Terrors vorweg.

Die Uraufführung des ,Wintermärchens' "Der Silbersee" (UA 1933, mit Musik von Kurt Weill), mit scheinbar hintergründigen ironischen Anspielungen auf Hitlers wachsende Macht, wird von der SA gestürmt. Es folgen Aufführungs- und Publikationsverbot für Kaisers Stücke. Im Mai 1933 brennen auch seine Bücher auf dem Scheiterhaufen der Nationalsozialisten. Er entschließt sich erst 1938, wohl hauptsächlich wegen erneuter finanzieller Nöte, kurz vor einer Gestapo-Hausdurchsuchung zur Flucht über Amsterdam in die Schweiz.

In seiner letzten Lebensphase holen ihn die alten Sorgen ein. Im Schweizer Exil wird er wieder von Almosen seiner Freunde abhängig. Vergeblich bemühen sich Thomas Mann und Albert Einstein um eine Einreisegenehmigung für Kaiser in die USA. Er vollendet trotz seines pessimistischen Menschenbildes und gehetzten Lebens in der Emigration noch eine Fülle zahlreicher Komödien und Anti-Kriegsstücke, u. a. "Klawitter" (1939/40), "Der Soldat Tanaka" (1939/40), "Das Floß der Medusa" (1940/43), die aber ohne erkennbare theater- und literaturgeschichtliche Wirkung bleiben. Auch Lyrik, Filmexposés und Romanmanuskripte finden sich in seinem Nachlass. Am 4. Juni 1945 stirbt er als mittelloser und vergessener Schriftsteller in Ascona. Wegen seines eigenständigen und nicht nur intellektuellen Trends folgenden zeitkritischen Künstlertums sollte Georg Kaiser jedoch nicht der Vergessenheit anheimfallen.