Das Rad zurückgedreht

Ein neuer Sammelband beschreibt Transferprozesse als kulturelle Praxis des 16. Jahrhunderts

Von Mathis LeibetsederRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mathis Leibetseder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mitte der achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts gründeten die beiden Literaturwissenschaftler Michel Espagne und Michael Werner am renommierten Pariser Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS) eine neue Arbeitsgruppe. Ihr Programm: die Erforschung des Kulturtransfers zwischen Frankreich und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert. Zahlreiche Monographien, Tagungen und Sammelbände zeugen seither vom Erfolg dieser neuen Forschungsrichtung. Für deren Anziehungskraft spricht aber auch die Tatsache, dass ihre Konzepte nach und nach auf andere 'Beziehungsgeschichten' übertragen wurden - etwa auf die zwischen Großbritannien und Deutschland. Mittlerweile arbeitet man in den Geisteswissenschaften daran, die Spuren des Kulturtransfers auch in weiter zurückliegenden Epochen aufzuspüren.

Diesem Bestreben verdankt sich auch ein neuer Sammelband, den der Wiener Historiker Wolfgang Schmale unter dem Titel "Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert" herausgegeben hat. Die 21 Aufsätze des Buches dokumentieren eine Fachtagung, die im März 2000 unter beunruhigenden politischen Vorzeichen in der österreichischen Hauptstadt stattfand; erst seit wenigen Tagen regierte damals dort die umstrittene Koalitionsregierung aus ÖVP und FPÖ, und das EU-Mitglied Österreich sah sich von der Kommission in Brüssel mit Sanktionen belegt. Die Dekonstruktion nationaler Mythen, die sich die Kulturtransfer-Forschung auf die Fahnen geschrieben hatte, gewann dadurch plötzlich eine bedrückende Aktualität.

Einen Hauch der aufgeheizten Stimmung jener Tage merkt man auch der Podiumsdiskussion an, mit welcher die Tagung eröffnet wurde. Michel Espagne etwa nutzte die Gelegenheit, um die Transferforschung als Kern einer "europaorientierte[n] Geschichtsschreibung" zu positionieren, der es darum gehe, "dass die Kulturräume keine eigenständigen Größen sind, sondern dass ihre jeweiligen Identitäten das Ergebnis einer Vielzahl von Verflechtungen ist". Das fremde Erbe im Eigenen werde im nationalstaatlichen Zusammenhang meist jedoch verdrängt, was sich insbesondere im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte immer wieder zeige. Deshalb sei es wichtig, "das Rad der historischen Wissenschaftsgeschichte zurückzudrehen, um tiefere Schichten aufzudecken".

Dass sich das Rad der Geschichte gar nicht so leicht zurückdrehen lässt, erweisen die Aufsätze des Sammelbandes. Insbesondere an dem Faktum, dass sich die Transferforschung bislang auf das Zeitalter der Nationalstaaten beschränkte, arbeiten sich die einzelnen Beiträge ab. Wiederholt wird in diesem Zusammenhang die Forderung laut, Transferprozesse zwischen einzelnen Regionen zum Untersuchungsgegenstand zu erheben oder den Blick auf den Austausch zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen oder konfessionellen Gruppierungen zu lenken. Dass dadurch die gegenwartsbezogene Pointe dieser Forschungsrichtung verloren geht, wird freimütig eingestanden. Ohne die "National(kultur)grenze als entscheidende Kategorie", so Cornel A. Zwierlein, werde "das Kulturtransferkonzept mehr als heuristisches Instrument fruchtbar" gemacht, weniger dagegen die "auf das Heute zielende Finalität, die in der Nationalitätsdekonstruktion liegt".

Indes fallen die Konzepte der Transferforschung gerade dort auf fruchtbaren Boden, wo man auch in Bezug auf das 16. Jahrhundert zwar nicht von Nationen, aber doch immerhin von distinkten Staats- oder Hofwesen sprechen darf, nämlich in der Diplomatiegeschichte. Zwierlein führt in seinem Beitrag überzeugend aus, dass die zeitgenössischen 'Zeytungen' - politische Nachrichten, die speziell zur Unterrichtung eines Fürsten verfasst wurden - nicht als Teil des Kulturtransfers gedeutet werden sollten, solange sie nicht "zum Strukturumbau im eigenen System benutzt werden". Dagegen stellt Friedrich Beiderbeck jene "kulturellen Referenzen" in den Vordergrund seines Aufsatzes, die den Blick der französischen Außenpolitik auf das Reich bestimmten; insbesondere fragt er nach Gestalt und Funktion von Referenzen wie 'Protestantismus', 'Reichsverfassung' und 'Landsknechtwesen'. Einem anderen, besonders aufschlussreichen Ansatz folgt Arno Strohmeyer, der die Botschafter des Kaisers im Spanien Philipps II. untersucht. Seine These lautet, "dass der durch die Einrichtung der kaiserlichen Botschaft initiierte Kulturtransfer auf der einen Seite die beiden habsburgischen Herrschaftsbereiche miteinander verband, auf der anderen Seite jedoch gleichzeitig ihre zunehmende Trennung förderte, da er die Ausbildung frühmoderner Staatlichkeit [...] unterstützte".

Ein zweites Leitmotiv des Bandes stellt der Transfer kultureller Objekte und Formen dar. Die Aufsätze von Marina Dmitrieva-Einhorn über die Italienrezeption in Ostmitteleuropa und von Žarka Vujic über das Sammeln im Kroatien des 16. Jahrhunderts führen zahlreiche Beispiele an, die in Fallstudien freilich noch eingehend zu untersuchen sein werden. Als inspirierend könnten sich auch die Ausführungen von Martin Mulsow erweisen, der dazu aufruft, "eine Kulturkonsum-Theorie für das 16. Jahrhundert transnational anzulegen und insofern mit Prozessen des Kulturtransfers zu korrelieren".

Nicht unerwähnt bleiben darf das dritte Leitmotiv des Sammelbandes, das die Vermittlungsinstanzen des Kulturtransfers variiert. So stellt Katrin Keller anhand von Kursachsen fest, dass bereits im 16. Jahrhundert jene gesellschaftlichen Gruppierungen als Mittler auftraten, die nach Michael Werner erst im 18. Jahrhundert die Transferprozesse maßgeblich beeinflussten, und Martin Scheutz weist darauf hin, dass die besonderen Transferleistungen gesellschaftlicher Unterschichten Gerichtsprotokollen entnommen werden können.

Das von Wolfgang Schmale zusammengestellte Buch bietet also all jenen, die sich mit dem Phänomen des Kulturtransfers im 16. Jahrhundert beschäftigen wollen, sowohl theoretische als auch thematische Handreichungen. Nicht zuletzt durch die Edierung der Diskussionen lässt es unterschiedliche Meinungen, Trends und Strömungen sichtbar werden, die innerhalb der Kulturtransfer-Forschung gegenwärtig bestehen. Insbesondere jene Beiträge, die das Verhältnis von Diplomatiegeschichte und Kulturtransfer-Forschung eruieren, dürften auch von Spezialisten interessiert zur Kenntnis genommen werden. Anderes bleibt derzeit noch zu allgemein und harrt einer eingehenderen Behandlung. "Kulturtransfer" ist ein diskursives Buch, das nicht zuletzt zum Nachdenken über den derzeitigen Stand der Kulturtransfer-Forschung anregt und in fachwissenschaftlichen Kreisen seine Leser durchaus finden wird.

Zusammenfassungen der einzelnen Beiträge finden sich im Anhang des Buches oder im Internet unter der Adresse http://www.studienverlag.at/titel.php3?nr=744.

Kein Bild

Wolfgang Schmale (Hg.): Kulturtransfer.
Studien Verlag, Innsbruck 2003.
380 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-10: 3706517302

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch