Das Fremde im Blick - Todesfigurationen zwischen Konkretisierung und Abstraktion

Christian Kiening über "Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit"

Von Tanja MöllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tanja Möller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass der Tod, diese letzte gewisse-ungewisse Grenze, in den letzten Jahren verstärkt Eingang in die wissenschaftliche und öffentliche Diskussion gefunden hat, ist nicht erst seit Erscheinen der vielzitierten "Geschichte des Todes" von Philippe Ariès im Jahr 1978 nicht mehr zu leugnen. Immer mehr Publikationen widmen sich diesem Thema, dem oftmals die Barriere des Unsagbaren anhaftet. Wissenschaftliche Arbeiten zu den unterschiedlichsten Gebieten der Sepulkralkultur aber auch eine zunehmende Zahl belletristischer Bücher wie B. Bronnens "Friedhöfe" (1997), in der Beck'schen Reihe der "Kleinen Philosophie der Passionen" erschienen, oder Einblicke in das Leben einer "Event-Bestatterin" von C. Marschner ("Bunte Särge", 2002) zeugen von dieser rasanten Entwicklung, die wohl nicht zuletzt in dem Dürrenmatt Zitat "Die Beschäftigung mit dem Tode ist die Wurzel der Kultur" begründet sein mag. Mit der Publikation von Christian Kiening unter dem bezeichnenden Titel "Das andere Selbst" liegt nun eine weitere wissenschaftliche Arbeit vor, die sich unter einem anthropologisch geprägten Blickwinkel den Todesfigurationen der frühen Neuzeit widmet, in denen der Tod nicht mehr nur als drohender Heilsverlust, sondern als abstraktes und ambivalentes Phänomen zum Diskussionsgegenstand wird. Der Autor, vertraut mit der Materie u.a. durch seine Übersetzung und Interpretation des "Ackermann", strebt dabei kein neues Gesamtbild des Umgangs mit dem Tod um 1500 an, sondern entwirft anhand von kunst- und literaturwissenschaftlichen Fallbeispielen, entstanden zumeist im oberdeutschen Raum zwischen 1500 und 1550, in sechs Kapiteln eine räumlich und zeitlich stark konzentrierte Reflexionsgeschichte des Todes.

In der 18seitigen, z. T. leicht redundanten Einleitung dient der 1480 entstandene Kaltnadelstich "Tod und Jüngling" des Meisters des Amsterdamer Kabinetts dem Autor quasi als Kronzeuge für die von ihm aufgezeigte neuartige Reflexion des Todes und seiner Darstellbarkeit, die den Betrachter vor allem zur "Reflexion über die Modalitäten der Repräsentation des Nicht-Repräsentierbaren" anregen soll. Das erste Kapitel widmet sich dementsprechend unter dem Titel "Repräsentation und Imagination" ausführlich dem Strasburger Predigtzyklus (1495) des Geiler von Kaysersberg. Dieser stellt, insbesondere im dritten Predigtteil, durch seine explizite Auseinandersetzung mit den verschiedenen bildlichen, sprachlichen, philosophischen und theologischen Möglichkeiten den Tod zu definieren und zu repräsentieren, die "vielleicht ausführlichste Auseinandersetzung mit dem Tod am Ende des Mittelalters" dar. Kiening nutzt dieses Kapitel, um anhand der Predigt, ergänzt durch Dokumente zeitgenössischer Todeserfahrung sowie der Motivik des "Jedermann" in frühneuzeitlichen Dramen, zu zeigen, wie sich Todesbilder von der Substantialität zum Verweisungsgefüge verschieben und somit Anstoß für die Frage nach ihrer Bedeutung geben; eine Position, aus der sich Umbrüche der frühen Neuzeit speisen werden, wie das zweite Kapitel "Lebendige Tote" am Beispiel des zwischen 1516 und 1519/20 entstandenen Berner Totentanzes von Niklaus Manuel Deutsch belegen kann. Im Rahmen einer umfangreichen Interpretation dieses wohl herausragendsten monumentalen Totentanzes zeigt Kiening hier, indem er von der "Radikalisierung einer Tradition" spricht, dass Geilers an einem vielgestaltigen Tod entwickelte Aufforderung zum Memento mori in einen neuen Kontext Eingang gefunden hat: Die Wandelbarkeit der Todesfiguren verweist auf das Problem der Denkfigur Tod und ihre scheinbare Anschaulichkeit auf eine tatsächliche Unanschaulichkeit. Dass dieses Spiel mit der Imagination und Repräsentation auch vor Motiven nicht halt macht, die sich Anfang des 16. Jahrhunderts aus dem Totentanz herauslösten, stellt das Kapitel "Das andere Selbst" am Beispiel der zeitgenössischen Diskurse des Söldnerwesens dar: An der gesellschaftlich-imaginären Figur des Landsknechts oder Reisläufers reflektierten Maler wie Baldung, Dürer, Graf oder Binck den Umgang mit Krieg, Gewalt und Tod; unbestimmte, ambivalente Bildsituationen führen den Betrachter auch hier zu einer dynamisierten Todeswahrnehmung und verweisen in ihrer Uneindeutigkeit der Darstellung auf das Problem der Todesimagination. Ein Prinzip, das sich durch den Einbezug von Geschlechterbeziehungen weiterhin steigern ließ, wie das vierte Kapitel rekonstruiert. Gerade in der Begegnung von Tod und Mädchen, einem Motivkomplex der durch nahezu paradoxe Intimität geprägt ist, wurden nicht nur die Sinndimensionen von sündiger Triebhaftigkeit und daraus erwachsendem Tod, die Frau als Gefährdung des Mannes oder dämonisierter Weiblichkeit verhandelt. Sie eröffneten auch den Raum für das "magische Dreiecksverhältnis zwischen den Dargestellten, ihrem Blick und dem Betrachter". Das fünfte Kapitel lenkt die Aufmerksamkeit auf eine neue Privatheit im Umgang mit dem Tod: Stellvertretend für eine Gruppe von Bildern und Texten, die sich verstärkt von dem die Allgemeinheit ansprechenden Memento mori abwenden und stattdessen bewusst den individuellen Rezipienten als Zielgruppe ansprechen, geht Kiening u.a. auf die Buchstaben des Totentanzalphabetes von H. Holbein d.J. ein, welche ab 1524 als Schmuckinitialen Verwendung fanden. In ihnen sowie in den Vanitas-Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs vollzog sich eine "Dissoziation von Sterben und Tod", auch in ihnen geht es "um das Abstraktum, das in gleichem Maße zum Problem wird, indem es begriffen werden soll".

Die Analyse des um 1562 entstandenen Ölgemäldes "Triumph des Todes" von P. Bruegel d. Ä., welches den Tod mit der Apokalypse und somit das "individuell-intersubjektive Grenzphänomen mit dem heilsgeschichtlich-universalen" verbindet, bildet einen Schwerpunkt des abschließenden sechsten Kapitels. Indem es die Todesikonographie von Jahrhunderten auf den Punkt bringt, markiere dieses Gemälde nach Kiening eine Grenze, da das "Experimentieren mit dem paradoxalen Charakter des Todes" keine direkte Fortsetzung fand. Eine Feststellung, die zu dem Versuch geführt haben mag, mit dem Vergleich zwischen der Bruegelschen Endzeitvision und dem I. Bergmann Film "Das siebente Siegel" (1956) einen Bogen zur Konzeption des Todes in der Moderne zu schlagen.

Mit seinen meist hervorragenden Schwarz-Weiß-Abbildungen, einem umfangreichen farbigen Bildteil sowie gelungenen Bildbeschreibungen und

-interpretationen verknüpft das sorgfältig recherchierte Buch viel Neues mit bereits Bekanntem. Zum Teil überraschende, geistreich aufgespürte Parallelen, wie der Autor sie für Geiler und Manuel oder für Dürer und seinen Schüler Baldung Grien rekonstruiert hat, machen dabei deutlich, dass die von Kiening selbst eingestandene Verengung des Blickwinkels im Vergleich zu geläufigen anderen Forschungsarbeiten keineswegs eine Schwäche dieser ausgesprochen kenntnisreichen Arbeit darstellt. Im Gegenteil: mit der klaren Aufarbeitung der unterschiedlichsten Darstellungsformen des Todes erreicht Kiening eben jene Tiefenschärfe, die er selbst als Ziel seines Buches definiert und hebt sich dabei überraschend erfreulich von Überblickswerken à la Ariès ab, deren Pauschalisierungen historische Zusammenhänge häufig eher verschleiern als erhellen.

Inwieweit jedoch der von Kiening im letzten Kapitel mit der durchaus gelungenen Filminterpretation gewählte Schritt in die Moderne notwendig und im Vergleich mit dem Untertitel des Buches sowie der selbst proklamierten Konzentration kohärent erscheint, mag trotz des Verweises von Kiening, Bergmann greife "Aspekte auf, die, in anderen Medien, schon die frühe Neuzeit faszinierten" in Frage gestellt sein, zumal er sich im Verlauf des Buches nur in knappen Verweisen auf die Rezeption der analysierten Motive in der Moderne eingeht. Dass sich der hohe wissenschaftliche Anspruch des Autors auch im Vokabular wiederfindet, erschwert z. T. leider den Nachvollzug der Gedankengänge, zumal ein Blick auf Guthkes Antworten zu der Frage "Ist der Tod eine Frau?" (1997) zeigt, dass ein moderater wissenschaftlicher Sprachstil nicht unweigerlich zu einer Minimierung der wissenschaftlichen Erkenntnis führen muß. Zudem wäre ein bibliographischer Anhang zur schnelleren Orientierung wünschenswert gewesen und auch eine sorgfältigere Endredaktion hätte dem Buch und somit der Verständlichkeit an einigen Stellen sicherlich nicht geschadet. Insgesamt stellt Kienings Auseinandersetzung mit den "Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit" mit Sicherheit keinen leichten, aber erkenntnisreichen Lesestoff dar, der eine konzentrierte Lektüre sowie nicht geringe Vorkenntnisse der historischen Thanatologie erfordert, um den komplexen Gehalt und die Novitäten der Ausdeutungen zu verstehen.

Titelbild

Christian Kiening: Das andere Selbst. Figuren des Todes an der Schwelle zur Neuzeit.
Wilhelm Fink Verlag, München 2003.
261 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3770538196

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