Die stumme Stimme

Hans Meisels wieder aufgelegter Exilroman und Plädoyer für das Schweigen "Aguilar oder Die Abkehr"

Von Rebeca Castellano AlonsoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebeca Castellano Alonso

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Achtundvierzig Stunden lang war er der stumme Mann gewesen, und nie war es ihm so gut ergangen." Barcelona 1936: Vor Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges verliert Juan Aguilar bei einem Autounfall vorübergehend die Stimme. Wo er vorher der erfolglose Dichter und Damenhandtaschenvertreter gewesen ist, gewinnt er als Stummer sowohl Umsätze als auch Zuwendung zurück. Er gefällt sich in dieser Rolle und simuliert, seine Stimme für immer verloren zu haben. Die stimmliche Abkehr verhilft ihm, sich für alle interessant zu machen, die ihn zuvor kaum beachtet haben. Ihm wird, einem Beichtvater gleich, Vertrauliches mitgeteilt, so dass er über alle Betrügereien und Schwindeleien, denen er in nichts nachsteht, informiert ist. Der moralische Verfall der Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten in den unzähligen Liebschaften, durch die sich Männer und Frauen gegenseitig hintergehen. In diesem Freundeskreis und in dieser Gesellschaft wandelt Aguilar äußerlich stumm und innerlich entfremdet herum, bis ihn die politischen Ereignisse zu grundsätzlichen Entscheidungen für sein weiteres Leben zwingen.

Meisel gelingt ein echter Exilroman, denn allmählich eröffnen sich unter der Oberfläche Metaphern und Parallelen für das in dieser Zeit viele Schriftsteller betreffende Schicksal: das Exil. Meisel selbst lebt aufgrund seiner jüdischen Herkunft seit 1934 nicht mehr in Deutschland, sondern zunächst in Österreich und Italien bis er 1938 Sekretär Thomas Manns in den USA wird. Die Stummheit seiner Hauptfigur erinnert an die Empfindung der exilierten Autoren, denen im Ausland das Wort abgeschnitten ist. Die Flucht einiger Romanfiguren aus den chaotischen Verhältnissen Barcelonas gleicht dem Schicksal unzähliger Hitler-Flüchtlinge.

Meisels Werk überzeugt zudem durch die Darstellung der Charaktere, die nicht selten verschroben wirken und humoristisch gezeichnet sind. Doktor Demizel mit seiner Berliner Art ("Männeken, Sie wissen janz jenau, daß Sie nicht simuliert haben!") und der Kritiker Lablache ("Der Kritiker sah kritisch aus. Er hörte nicht gerne zu, wenn jemand anders lange Reden hielt") sind Beispiele seiner charakteristischen Ausdrucksweise.

Die sprachliche Darstellungsweise besticht durch Humor und zahlreiche Wortspiele ("systematisch planlos" oder "Er verliert kein Wort darüber, daß der Stumme spricht"). Da Aguilar verstummt ist und seine Freunde meinen, "das Loch seines Schweigens mit einem Wortschwall" zuschaufeln zu müssen, entstehen oft seitenlange Monologe. Als Leser freut man sich, wenn Aguilar die Monolog des anderen geistig mit Rückblenden unterbricht und sich in seinen eigenen Gedanken verliert (" 'Hoppla!' Aguilar kam zu sich. 'Aufgepaßt! Das war nicht mehr der Vater. Jetzt spricht er von seiner Frau.'"); dadurch bleiben sie auch lebendig.

Die Selbstreflexivität des Buches im Buch selbst als raffiniertes literarisches Mittel findet sich deutlich in den Überlegungen Salinas zu dem geplanten Film über Aguilar und sein Schicksal. Die Gefahr der Monotonie wird erläutert, in der Stummheit ein Sinn, eine Botschaft gesucht und über ein Ende der Geschichte diskutiert. Bei diesen Überlegungen kommt auch überspitzt die Komponente der Sprachkritik in bester Lord-Chandos-Manier zum Ausdruck, die dem ganzen Buch zugrunde liegt: "Unser Mann wird schweigen, nicht um für das freie Wort zu demonstrieren, sondern weil die Ohnmacht aller Worte ihm die Zunge lähmt."

Ob Aguilar die Sprache wiederfindet bleibt an dieser Stelle offen. Nur soviel: Hans Meisel hat seine Stimme immer wieder gebraucht, um den Kampf des Exilschriftstellers gegen seine Vertreiber und um sein Publikum zu führen. Damals jedoch auf scheinbar verlorenem Posten, was an seinen Aguilar erinnert, der das Buch mit "Ich will nur nicht, daß die andern siegen. Aber wenn sie siegen sollten - ans Verlieren bin ich ja gewöhnt" beschließt. Vielleicht wird Meisels Stimme mit der Wiederauflegung seines Romans jetzt gehört.

Titelbild

Hans Meisel: Aguilar oder Die Abkehr. Roman.
Weidle Verlag, Bonn 2001.
277 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3931135551

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