Sprachbegabte Tiere im Strom der Sinnesreize

Willard Van Orman Quines Kant Lectures über den Zusammenhang von Wissenschaft und Empfindung

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Willard Van Orman Quine (1908-2000) gehört zu den einflussreichsten Philosophen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einem breiteren Fachpublikum ist der amerikanische Philosoph, der auch eine Reihe von bedeutenden logischen Arbeiten publizierte, durch seinen Aufsatz "Two Dogmas of Empiricism" (1951) und durch seine Bücher "Word and Object" (1960) und "The Roots of Reference" (1974) bekannt.

Quines philosophisches Anliegen kann man sich vielleicht am besten anhand seiner 1951 vorgetragenen Kritik am 'klassischen' Empirismus und an der empiristischen Epistemologie des Wiener Kreises vergegenwärtigen. Quines Einschätzung nach beruht dieser Empirismus, so wie er ihn noch bei Rudolf Carnap kennen lernte, auf zwei Dogmen. Denn zum ersten sind diese Empiristen fälschlicherweise der Ansicht, dass es eine unüberbrückbare Kluft zwischen analytischen Wahrheiten a priori und synthetischen Wahrheiten a posteriori gibt, d. h. von Wahrheiten, die begrifflich wahr sind ('Ein Junggeselle ist ein unverheirateter Mann'), und solchen Wahrheiten, die auf empirischen Erfahrungen beruhen ('In Magdeburg scheint heute die Sonne'). Tatsächlich gibt es diesen Unterschied nach Quine jedoch nicht, weil selbst 'analytische' Wahrheiten letztlich auf Erfahrungen beruhen, also a posteriori gültig sind. Und zum zweiten vertreten nach Quine die Empiristen hartnäckig die Auffassung, dass jede sinnvolle Aussage letztlich auf einfache Sinnesdaten zurück zu führen ist. Diese Konzeption einer empiristischen Semantik ist jedoch spätestens seit Carnaps vergeblichen Bemühungen in "Der logische Aufbau der Welt" (1928), eine Theorie der Protokollsätze zu entwickeln und zu verteidigen, gescheitert.

Weil also, so Quine, beide Auffassungen nicht gerechtfertigt werden können, müssen wir diese beiden Dogmen aufgeben und dem Empirismus nach dem linguistic turn einen behavioristischen und pragmatistischen Anstrich geben. Danach beruht unser gesamtes Wissen auf Empfindungen (stimuli), die wir in einem komplexen Prozess des Spracherwerbs und der Sprachkonditionierung zu einer 'einheitlichen' wissenschaftlichen Konzeption der äußeren Welt auf einander beziehen.

In "Word und Object" nimmt Quine dann dieses ambitionierte, allerdings auch innerhalb der Analytischen Wissenschaftstheorie von Anfang an heftig umstrittene Projekt einer, wie Quine es sieht, konsequent naturalistischen, physikalistischen, monistischen und holistischen Erkenntnistheorie und Ontologie in Angriff. Mit ihm soll das Problem gelöst werden, wie wir Menschen mittels Sprachkonditionierung und Sinnesreizen eine einheitliche, wenn auch nicht 'starre' wissenschaftliche Welt aufbauen.

Das Buch "Wissenschaft und Empfindung", das der frommann-holzboog Verlag in der deutschen Übersetzung und mit einer Einleitung von H. G. Callaway vorlegt, geht auf die Immanuel Kant Lectures zurück, die Quine 1980 an der Standford University hielt. Dieses Buch bietet zwar eine Art von "verbesserter Zusammenfassung" (2003) von Quines Philosophie, ist in weiten Teilen aber wohl eher für Leser von Interesse, die sich schon gut mit Quines älteren Arbeiten und ihrem argumentativen Kontext auskennen.

Dies trifft jedoch nicht auf die erste der vier Vorlesungen zu, in der Quine seine philosophischen Intentionen auch für Leser verständlich zum Ausdruck bringt, die sich nicht auf die Subtilitäten seiner Semantik einlassen möchten oder können. In ihr versucht Quine einleitend die Fragestellung seines Vorlesungszyklus durch einen Verweis auf Kants "Kritik der reinen Vernunft" (1781, 2. Auflage 1787) zu verdeutlichen. Bekanntlich hat Kant in seinem ambitioniertem Hauptwerk zu zeigen versucht, dass es nicht nur synthetische Wahrheiten gibt, die auf Erfahrungen beruhen. Vielmehr wollte er beweisen, dass es auch synthetische Wahrheiten a priori gibt, also Urteile oder Sätze, in denen wir berechtigterweise eine unsere Erkenntnis erweiternde Verbindung zwischen einem Satzsubjekt und einem Satzprädikat herstellen, obwohl diese Verbindung nicht auf Erfahrung beruht. Ganz im Gegenteil ist nach Kant Erfahrung im strikten Sinne des Wortes überhaupt nur als ein notwendiges Geschehen möglich, wenn oder weil es synthetische Urteile a priori gibt. Das vielleicht bekannteste synthetische Urteil a priori besagt nach Kant, das jedes Ereignis in dieser Welt mit Notwendigkeit eine Ursache hat.

Kaum einem Philosophen liegt Kants philosophische Auffassung über die Natur und die Eigenschaften unserer Erkenntnis jedoch ferner als Quine. Allerdings weist die Fragestellung von Quines Vorlesungen, wie er selbst betont, eine gewisse Ähnlichkeit mit Kants philosophischem Anliegen in der Kritik der reinen Vernunft auf. Denn Quine fragt: "Wie ist es möglich, durch bloßes sporadisches Aktivieren unserer Sinnesrezeptoren, unsere komplizierte Theorie über Verstand und Gefühl der anderen Menschen und über die externe Welt zu fabrizieren?" (2003) Im Unterschied zur Bewusstseinsphilosophie Kants verzichtet Quine von vornherein auf ein mentalistisches Vokabular, das keine naturalistische Fundierung in unserer Sinnlichkeit besitzt. Wie sein historisches Vorbild David Hume begreift auch Quine den Menschen als besonders hoch entwickeltes und sprachbegabtes Tier - und den Physikalismus als einzig sinnvolle Theorie unserer Erkenntnis der Welt.

Allerdings argumentiert Quine nicht für die Wahrheit oder Plausibilität seines physikalistischen Monismus, indem er sich explizit mit den Fehlern und Schwächen einer monistisch-mentalistischen oder einer dualistischen Theorie unserer Erkenntnis auseinandersetzt. Quine argumentiert vielmehr direkt für seinen physikalistischen Monismus, weil er alle Versuche, Personen, die an der einen oder anderen Version des monistischen Mentalismus festhalten, rational vom Gegenteil zu überzeugen, für nicht vielversprechend hält. Auch hier erweist sich Quine als guter 'Humeaner': Philosophische Grundsatzentscheidungen werden letztlich nicht 'rational' getroffen. Schließlich erwerben wir alle unsere Überzeugungen durch einen Prozess der Abrichtung und der Gewohnheit. Man könnte im Sinne Quines vielleicht sagen, dass die Weigerung des Mentalisten, den Physikalismus zu akzeptieren, gerade die Überlegenheit des Physikalismus belegt, der den Menschen ja zunächst als ein Wesen betrachtet, dessen Ansichten, Auffassungen und Überzeugungen Teil der Naturgeschichte der physikalischen Welt sind. Wir Menschen sind keine rationalen Subjekte, die sich völlig frei und losgelöst von physikalischen Prozessen für oder gegen eine Meinung oder einen Standpunkt entscheiden können. Gerade dies beweist, dass wir Physikalisten sein und den, wie man ihn nennen könnte, 'freistehenden' Mentalismus ohne naturalistisches Fundament als einen Mythos aufgeben sollten.

Wie stellt sich dieser physikalistische Monismus, durch den das Kantische dualistische Erkenntnismodell von Sinnlichkeit und Verstand, von Rezeptivität und Spontanität endgültig überwunden werden soll, nun für Quine dar? Beschränken wir uns auf einige allgemeine Hinweise. Auch nach Quine können wir nicht auf mentalistische Begriffe verzichten. Allerdings erklärt sich deren Bedeutung letztlich durch ihre Verankerung in der physikalischen Welt. Danach gibt es überhaupt keine sinnvollen mentalistischen Terme, die sich nicht auf eine "physiologische Beschreibung" zurückführen lassen. Dies gilt nach Quine selbst für die Terme der Logik und der Mathematik.

Wie aber werden wir Menschen dazu befähigt, durch das Auslösen unserer Sinnesrezeptoren unser sprachlich verfasstes System der Welt zu entwickeln? Diese Frage beantwortet die Erkenntnistheorie, die nach Quine mit dem Begriff der Wahrnehmung einsetzt. Die Wahrnehmung selbst ist zwar mentalistisch, aber sie hat eine physikalische Wirklichkeit. Wahrnehmungen als solche sind nach Quine Ereignisse, die auf der Reizung unserer Sinnesrezeptoren beruhen und durch Bewusstsein begleitet werden. Als Behaviorist behauptet Quine nun, dass Lernen die Ausbildung von Gewohnheiten bedeutet. Das Lernen setzt einerseits angeborene Maßstäbe für Ähnlichkeiten voraus, die die Grundlage der Psychologie von Reiz und Reaktion sind, und es hat andererseits zur Voraussetzung, dass Reize wiederholt auftreten. Mit anderen Worten: Wir lernen unser Vokabular, indem wir Reizgeneralisierungen vornehmen, d. h. Gewohnheiten ausbilden. "Wenn ein Wahrnehmungsereignis einem vorherigen subjektiv ähnlich ist, tendieren wir dazu, ein Wahrnehmungsereignis zu erwarten, ähnlich demjenigen, das dem vorherigen gefolgt ist. So ist die unausgesprochene Faustregel, das primitive Gesetz der Induktion: Ähnliche Ereignisse haben ähnliche Fortsetzungen. Diese Neigung zur Induktion ist einfach die mentalistische Seite unserer Verhaltensprüfung der subjektiven Ähnlichkeit." Unsere Wahrnehmung führt aufgrund von Induktion zu Wissen oder Glauben, wobei sich eben nicht 'im Geist', sondern im verbalen Verhalten des Menschen tatsächlich zeigt, was ein Mensch wirklich glaubt.

Weil wir Wörter zunächst durch Reizgeneralisierung lernen, besteht die primäre Aufgabe der naturalistischen Erkenntnistheorie nach Quine darin, unseren Spracherwerb zu untersuchen. Im Medium der Sprache zeigt sich, was wir wirklich über die äußere Welt wissen. Die sprachphilosophisch, behavioristisch transformierte Erkenntnistheorie führt somit auf die komplexe Problematik der Referenz, d. h. auf die Frage, wie wir uns mittels unserer Sprache auf physikalische Körper beziehen. Nach Quine umfasst diese Problematik drei Teile: "Was sollte als Referenz gelten, wie können wir das Referieren lernen, und warum insbesondere das Referieren auf Körper."

In seinen drei weiteren Vorlesungen erörtert Quine unseren Spracherwerb und diskutiert Fragen der normativen Erkenntnistheorie, also Aspekte der kognitiven Sprache, die Natur der objektiven Referenz und die physikalistische Ontologie, d. h. die Objekte, die durch den physikalistischen Monismus postuliert werden. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die konkrete Ontologie eine quantité négligeable ist. Schließlich besagt die Theorie der Beobachtungssätze, die erläutert, wie wir sprachliche Terme lernen, dass die Objekte, auf die wir uns sprachlich beziehen, in letzter Konsequenz austauschbar sind. Worauf es wirklich ankommt, sind die strukturellen Relationen, die zwischen den Termen und Sätzen einer Theorie und den Beobachtungssätzen bestehen. Die Ontologie selbst ist dagegen austauschbar, weil es für unser Verhalten keinen Unterschied macht, ob wir die Welt als eine Ansammlung von Bäumen, Büchern und Menschen verstehen oder sie uns als ein Aggregat von formlosen und farblosen Korrelaten vorstellen. Quine spricht in diesem Zusammenhang auch von den "freitreibenden Wegen der Ontologie".

Es besteht kein Zweifel, dass "Wissenschaft und Empfindung" eine wichtige Quelle für alle diejenigen darstellt, die sich ernsthaft mit Quines Philosophie beschäftigen möchten. Wirklich neue oder überraschende Einblicke in seinen naturalistischen Physikalismus vermag dieses Buch aber wohl nicht zu geben, was von Quine aber auch nicht behauptet wird. Dabei steht die systematische Frage, ob Quines Version des Naturalismus in toto zu überzeugen vermag, natürlich auf einem anderen Blatt. Auf jeden Fall muss man kein Kantianer sein, um Quines These, dass es keine analytischen Wahrheiten gibt, mit einer gehörigen Portion Skepsis zu begegnen. Und ob der Naturalismus, wenn man ihn denn ernst nimmt, wirklich nur als Sprachbehaviorismus à la Quine zu rechtfertigen ist, bleibt ebenfalls sehr fraglich. Jedenfalls sollten wir uns davor hüten, den Mythos des Mentalen vorschnell durch den Mythos des monistischen Physikalismus zu ersetzen. Schließlich haben auch Mythen ihre Moden.

Titelbild

Willard van Orman Quine: Wissenschaft und Empfindung. Die Immanuel Kant Lectures.
Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2003.
159 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-10: 3772820069

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