Was nicht gehen kann, muss auch nicht gehen

Ein Lesebuch über die deutschsprachige Nachkriegsliteratur verabschiedet die Idee von der Kanongültigkeit

Von Jens RomahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Romahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Lesebüchern entkommen Herausgeber regelmäßig der Not, einen kanonischen Kernbestand abendländischen Kulturschaffens vermessen zu müssen. Die createures de anthologie sind immer im Vorteil: Sie können vom Rande einer viel beweglicheren Peripherie aus betrachten, Texte nach Belieben goutieren und zu einer Gesamtschau zusammenstellen. Das Ergebnis, ein deutschsprachiges "Lesebuch" (im Titel steht leider etwas vereinnahmend "deutsches" Lesebuch), das weder in der Umklammerung durch weltliterarische Kanongeläufigkeit zu ersticken droht noch den Pfad einer literaturwissenschaftlich 'getragenen' Deutungsperspektive gehen muss - Kanonbildung ist immer eine Frage literarischer Wertung - liegt nun vor. Die Herausgeber des vorliegenden Lesebuches, der Schriftsteller Norbert Niemann und der Feuilletonist Eberhard Rathgeb wollten ein Buch in erster Linie für Leser vorlegen, deren Verständnis der deutschsprachigen Literatur entscheidend in den 80er und 90er Jahren geprägt wurde, so heißt es im Vorwort. Eine verwandte Form einer ähnlich aufbereiteten Textsammlung, die Anthologien, ist von einer ähnlichen Perspektive auf die literarische Landschaft getragen. Etwa die Volker Hages für die Literatur der 70er und 80er Jahre ("Die Wiederkehr des Erzählers, Schriftproben") oder die Anthologien von Christian Döring, die inzwischen ganz ohne die Einschübe literarische Wertungen auskommen ("Erste Einsichten, Aufbruchstimmung"). In der Summe sind diese Kompendien sicherlich dankenswerte Hervorbringungen des Klassikersturzes der 70er Jahre. Den beiden Herausgebern des anzuzeigenden Bandes geht es um eindringlich gebliebene Lesererlebnisse, so zunächst natürlich erst einmal um die eigenen Vorlieben, die, wenn man sie auch nicht belegen kann oder will, so doch Wirkung hinterlassen haben, die man in die Welt tragen möchte. Die Autoren belegen dies im Vorwort nochmals mit dem Bild vom "vitalen" stets leidenschaftlichen und neugierigen Leser und besinnen sich auf die Horazische Doppelfunktion der Dichtung ("aut prodesse volunt aut delectare poetae / aut simul"). Dieser relativ weite Sehspalt ästhetischen Wertungsempfindens sorgt denn auch dafür, dass man nicht immer auf der Seite der "Höhenkammliteratur" ist. Ganz so ist es auch im vorliegenden Lesebuch. In diesem wiederholen sich nicht die Volten literaturkritischer Betrachtung, weder die, die in der renommierten SWR-Bestenliste zum Ausdruck kommen noch diejenige, die sich in dem Furor des Zuspruches des Bachmannpreises einmal jährlich in Kärnten ereignen. Die Texte dieser Preisträger sind ohnehin in wieder anderen Archiven des Wissens abgelegt: Es gibt einen Band, der die Best-Offs der Bachmannpreistäger versammelt.

Zum Bauprinzip: Ergänzt wird das Lesebuch durch Einleitungen in die dargestellten Zeitabschnitte, deren sechs Kapitel jeweils für ein Jahrzehnt stehen, diese haben mehr die Gestalt eines (sozial)geschichtlichen Kurz-Exposés, als das sie literaturgeschichtliche oder stilanalytische Annäherungen sind. Sie reißen die Eigenart des darauffolgenden Textes an, die Textausschnitte bescheiden sich wiederum darauf, eine Kostprobe abzugeben. Kurzbiographien der Autoren und Dichter gibt es im Anhang, hier wird auch dem übrigen Œuvre mal mehr, mal weniger stark nachgegangen. Dies ist gut, aber nicht in jedem Fall gut genug, mal mehr, mal weniger heißt, dass man mitunter in nahezu unzulässige Aussparungen abgleitet. Hier ist schon wie in den übrigen Kapiteln zusammengetragen, was gefällt. Man ordnet an, nicht ein, auch hier fehlen oft weitere Querverweise. Nur ein Beispiel: Die so wichtige "Meridian-Rede Paul Celans aus Anlass der Entgegennahme des Büchnerpreises wird auch hier nicht erwähnt. Die von Magnus Enzensberger hingegen bekommt ihren Raum bereits in einem der vorgelagerten Kapitel. Bei einigen Autoren wie zum Beispiel bei Ingeborg Bachmann fällt auf, das die Spurensuche in ihrem Werk leider in eine Mischung aus Eigenwilligkeit und Zurückhaltung gar Zurücknahme gegenüber dem rühmlich Bekannten mündet: Im Lesebuch ist ein Text aus dem Nachlass abgedruckt, die Hörspiele, die Lyrik der Autorin sind nicht erwähnt, die vielschichtige Poetik ihres Werkes wird vor diesem Hintergrund nicht wirklich deutlich. Etwas ärgerlich machen da schon die Eintragungen zu Gottfried Benn: "Der Dichter Gottfried Benn nimmt an Körpergewicht zu. Er hört in seiner Westberliner Stammkneipe Schlager. An die Menschheit denkt er dabei nicht."

Doch kommen wir noch einmal auf die einzelnen Kapitel zu sprechen: Der Abschnitt mit der Zeitperiode 1945 bis 1949 ist denkbar kurz gehalten, er versammelt Texte von Autoren, deren Schreibdimension weit auseinander liegt, die Memoria-Literatur von Nelly Sachs, Ilse Aichinger und Thomas Mann genauso wie Ernst Jünger, der sich gegen das Romanhafte bei Thomas Mann verwehrte. In dem folgenden Abschnitt "Wenn man aufhören könnte zu lügen" wird an den Hörspielautoren Günter Eich, der mit dem Hörspiel "Träume" an den Bestand verdrängter Ängste und Schuldgefühle der Deutschen rührte, während Johannes Bobrowski in seinem Gedicht "Steppe" die Erinnerung an das Land zwischen Weichsel bis zur Wolga belebte, Arno Schmidts Vertriebenenerzählung "Die Umsiedler" bekommt sei dem Erscheinen von Günter Grass´ "Krebsgang" noch einmal Aktualität. Für die 60er Jahre erinnert ein Gedicht Hans Magnus Enzensbergers, "Landessprache", irgendwie an den jungen Heinrich Heine, Alexander Kluge ist mit seiner "Schlachtbeschreibung" vertreten, eine "fiktive" Montage aus Dokumenten, die den Untergang der 6. Armee in Stalingrad "schriftstellerisch bearbeitet". Grass ist mit den "Hundejahren" vertreten, ein Roman, von dem er sagte, er sei besser als "Die Blechtrommel".

Nachfolgend setzt sich in der "bleiernen Zeit" der 70er Jahre Rolf Dieter Brinkmann von der Kumpanei der politisierten Altersgenossen ab und macht Deutschland viel lieber mit der amerikanischen Subkultur bekannt, Friederike Mayröcker wird in den Olymp der Spätsurrealisten gehoben und Heiner Müller hat mit der "Hamletmaschine" den Geist der Geschichte erblickt, wenn er das Ende der DDR als Krieg ohne Schlacht "seherisch" vorwegnimmt. Der Abschnitt der 80er Jahre erinnert an den erhabenen Schwellenkundler Peter Handke sowie an Elfried Jelineks Klavierspielerin, und Undine Gruenter wird mit ihren Erzählungen in "Nachtblind" vielleicht als letzte radikale Liebes-Romantikerin entlarvt.

Im abschließenden Kapitel "Elysian Park", jenes für die Jahre 1993-2002 , wird deutlich, das das vorliegende Lesebuch geneigt ist, als alternativer Katalog mit generationsspezifischen Kulttexten gängige Kanongültigkeit zu konterkarieren. Dem Leser mag sich da die Frage stellen, ob man gar niemanden mit Altbekanntem traktieren wollte? Wie ist es gar mit den weniger Versierten, wäre hier nicht etwas mehr Kanonisches hilfreich für eine Orientierung im Literaturbetrieb? Nichts gegen Kathrin Röggla, man fragt sich aber schon auch, warum Kathrin Röggla? Oder entfalten ihre Texte ein phänomenales Epizentrum mehr als die anderer Autoren? Ist es hier die Suggestionskraft in der Sprache einer Autorin, denen der Ornatus der Erzähllandschaften anderer Autoren nachsteht? Gut, ein Lesebuch muss zu seiner Auswahl keine weiteren Paraphrasen abgeben, das könnte eine Antwort sein. Muss dies aber zur Folge haben, dass man bis ins Auffällige hinein an nicht wenigen Stellen die Darstellung gegen eine vermeintliche Kanonisierung "an" oder gegen bürstet? Gegen die Kanonisierung gebürstet erscheint denn so auch die Entscheidung, den nicht minder eindrucksvollen Auszug "muttersterben" des Bachmannpreisträgers Michael Lentz nicht vorzufinden, statt dessen den jüngsten Roman "Liebeserklärung". Es ist wohl so, dass diese wie jede Auswahl nie das Glück aller treffen kann, mit diesem Band bleibt man sicherlich über Literatur im Gespräch. Das ist wenig genug.

P.S.: Eine Lizenzausgabe ist bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.

Titelbild

Norbert Niemann / Eberhard Rathgeb: Inventur. Deutsches Lesebuch 1945-2003.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
432 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3446203540

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch