Nur imaginär?

Ein Sammelband über des Kaisers neue und alte Kleider

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht einmal die gewaltsamste politische Herrschaft besteht aus reiner Gewalt. Herrschaft muss in ihren Regeln habitualisiert und (weil physisch oft abwesend) auch als anwesend imaginiert werden, damit sie als Herrschaft überhaupt funktionieren kann. Sie muss, sozusagen, auch in den Köpfen funktionieren, um über die Körper zu regieren. Das macht sie zu einem vertrackten sozialen Verhältnis "voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken" (Marx). Neben der realen Seite politischer Herrschaft stellt sich somit die Frage nach ihrer symbolischen und imaginären Seite. Die Autoren von "Des Kaiser neue Kleider" machen sich zur Aufgabe, anhand eines kulturgeschichtlichen Topos, dessen berühmteste Version das gleichnamige Märchen von Hans Christian Andersen ist, imaginäre Dimensionen der politischen Herrschaft zu diskutieren.

Das Buch braucht über seine Relevanz keine weitere Auskunft zu geben. Von Herrschaft zu sprechen heißt immer, auf Wesentliches zu gehen. Wer etwa Herrschaftskritik betreiben möchte, der sollte sich auch der immateriellen Seite der Macht zuwenden. "Des Kaiser neue Kleider" ist ein thematisch vielversprechendes Buch. Allerdings gelten für vielversprechende Bücher auch besonders hohe Ansprüche.

Um es vorwegzunehmen: das Buch ist nicht schlecht. Und der Sammelband ist (vor allem auf den ersten Blick) sehr schön. Er ist reich illustriert und vermag es unter anderem auch dadurch, ein komplexes Thema auf die Ebene der Anschaulichkeit herunterzuholen. Ferner fällt auf, dass das Buch sein Thema auch durch seine eigene Form reflektiert: nicht ein einzelner tritt als Herausgeber auf. Stattdessen präsentiert sich ein offenbar gleichberechtigtes Autorenkollektiv. Wo sich anderswo die symbolischen (eher als imaginären) Dimensionen politischer Herrschaft in das Konzept von Autorschaft hinein verlängern, da wählt das Autorenkollektiv eine Alternative. Ein schönes Detail.

Dennoch stellen sich bei der Lektüre des Bandes zwei große und kritische Fragen, die ins Herz der Konzeption zielen. Es mag ein wenig albern scheinen, aber die erste betrifft den Begriff des Imaginären und die zweite den Begriff der Herrschaft.

Was ist, zunächst, mit "imaginär" gemeint? Die Frage nach dem Imaginären erscheint zwar als naheliegend, denn wenn Gewalt die reale Dimension der politischen Herrschaft darstellt, die in allen Krisenzeiten der (symbolischen) Ordnung hervorbricht, dann kommen ihr - strukturalistisch gedacht - zweifellos auch noch symbolische und imaginäre Dimension zu. Die Trennung von symbolisch und imaginär ist nun allerdings ausgesprochen schwierig und im Buch auch nicht ganz klar. Und auch der Alltagsverstand hilft einem da nicht unbedingt weiter.

Symbolisch mag man, so könnte man meinen, eine Ordnung nennen, die in einem semiotischen System Ausdruck findet und intersubjektiv geteilt wird. Diese Ordnung hätte nun sowohl reale als auch imaginäre Quellen, die sich dann in ihr selbst offenbaren. So wäre das Imaginäre in enger Abhängigkeit von der symbolischen Ordnung zu denken. Als imaginäre Quellen könnten dann etwa Begehrensstrukturen und Momente der Fiktion, des Glaubens oder Vertrauens verstanden werden, die der symbolischen Ordnung vorausgehen.

Das wären mögliche Definitionen des Imaginären. Andere wären denkbar. Mit welchen allerdings wird in dem Sammelband dann auch tatsächlich gedacht? Strukturen der Anbetung, der Verehrung, des bloßen Glaubens und Vertrauens in Herrschaft sind als imaginäre Formen von Herrschaft - als Formen der ihr adäquaten psychologischen Struktur - evident. Auch gehören Aspekte des Fetischismus, wie sie im Aufsatz von Susanne Lüdemann benannt werden, zweifellos zu den imaginären Aspekten der Herrschaft. Mit den fiktiven, mythischen Quellen der Macht sind, vor allem im Aufsatz über "Macht und Fiktion" von Albrecht Koschorke, zweifellos imaginäre Dimensionen von Herrschaft beschrieben. Interessant und weiterführend ist in diesen und anderen Artikeln der leitende Gedanke, dass die politische Realität erst "als Effekt eines Glaubens" (Lüdemann) erzeugt wird, gerade so wie der nackte Kaiser in Andersens Märchen das symbolische Kleid der Herrschaft nur in der Imagination trägt.

Bei einigen anderen Begriffen, an denen sich die 18 sogenannten Lektüren entfalten, bleibt der Begriff des Imaginären allerdings problematisch. Allzu oft werden eher symbolische Strukturen beschrieben, die in je spezifischen semiotischen Ordnungen Ausdruck gefunden haben. So beschreiben etwa der Aufsatz über "höfische Mode" (eine klare symbolische Kleiderordnung) oder die (symbolische Ökonomie der) "Verschwendung" weniger die imaginären Dimensionen politischer Herrschaft als Aspekte ihrer symbolischen Instituierung. Zu zeigen wäre andernfalls, wie diese selbst wieder zum Gegenstand des Begehrens, des Glaubens oder Vertrauens gemacht werden, bzw. inwiefern sie bloß fiktiv bleiben.

Auch das Textgenre der "Lektüre" ist insofern schillernd und uneindeutig. Stellen die 18 Lektüren Interpretationen der am Anfang des Buches abgedruckten Originaltexte dar? Ist der Band ein Kommentar? Oder versucht er sich als eine Art thematisches Lexikon, der die Begriffe erörtert, die eben dem Imaginären der politischen Herrschaft angehören? Diese Fragen sind in mehrfacher Hinsicht relevant. Sie betreffen überhaupt den Anspruch des Projektes. Spricht das Buch über die versammelten Texte oder über das gewählte Thema?

Und daran entzündet sich auch die zweite große Frage. Was ist in dem Buch mit Herrschaft gemeint? Geht es um die Struktur feudaler, absolutistischer, personal gebundener Herrschaft? Geht es um Herrschaft, wie sie für unterschiedliche historische Epochen typisch ist? Geht es um Andersens Kaiser oder um Herrschaft überhaupt?

Wenn es über das Thema "Das Imaginäre politischer Herrschaft" und nicht nur über den Topos "Des Kaisers neue Kleider" sprechen möchte, dann greift das Buch zu kurz. Denn tatsächlich wird vor allem über den Monarchen, den Souverän, den Herrscher gesprochen, wie er mit dem bürgerlichen Zeitalter jedoch als relevante Größe verschwunden ist.

Zwar stellt dieses historische Vokabular für heutige Konstellationen politischer Herrschaft (und zwar nicht nur in Diktaturen), taugliche Metaphern zur Verfügung. Allerdings sind es eben auch nur noch Metaphern, die deswegen einer Übersetzung bedürfen. Andernfalls kommt man zum Beispiel zu solch euphemistischen Trugschlüssen, die sich etwa in der falschen Antithese von liberaler Demokratie und autoritärer Herrschaft niederschlagen. Und solche Tendenzen kann man tatsächlich auch im Buch finden.

Am Begriff der Herrschaft entzündet sich also die Frage nach der Aktualität des Buches. Sagt es lediglich etwas über feudale und absolutistische und diktatorische Macht oder kann man anhand des Buches etwas über die eigene Gegenwart lernen. Geherrscht und beherrscht wird freilich noch heute genug, bloß, in welcher Form?

Die Autoren suggerieren einerseits eine Aktualität und Anwendbarkeit ihrer Kategorie der Herrschaft (nicht zuletzt aufgrund des zeitgenössischen wissenschaftlichen Vokabulars). Diese Aktualität wäre jedoch erst durch eine gesellschaftstheoretische Aktualisierung und Übersetzung einzulösen. Und manchmal gestehen die Autoren andererseits auch ein, dass heutige Herrschaft wohl anders funktioniert, als die, von der in erster Linie die Rede ist. (Etwa Thomas Frank in seinem Aufsatz über "Investitur, Devestitur".) Aber wie?

Dass im Buch darüber wenig gesagt wird, mag durchaus mit einigen kulturwissenschaftlichen Trends zusammenhängen, die sich unter anderem an der Vormachtsstellung bestimmter akademischer Disziplinen ablesen lässt. Das Buch ist dafür exemplarisch. Obwohl es um Herrschaft geht, stammt keiner der versammelten Autoren aus der Soziologie oder Politikwissenschaft. Es sind eben Kulturwissenschaftler - Literaturwissenschaftler, Mediävisten, Kunstwissenschaftler - und eben keine Sozialwissenschaftler. Das wäre soweit nicht schlimm, führt aber in Auseinandersetzung mit "Herrschaft" zu einer perspektivischen Eingrenzung, die Folgen hat.

In der Literaturliste, die historisch weit ausgreift und insgesamt über 200 Titel umfasst, bleibt etwa die Tradition des Marxismus vollkommen ausgespart (Cornelius Castoriadis, dessen Name einmal im Nebensatz fällt, bildet die Ausnahme, die diese Regel bestätigt). Nun gehen mit der Aussparung der marxistischen Tradition aber zunächst auch Erkenntnisse über die imaginären Dimensionen politischer Herrschaft verloren: Etwa die "camera obscura" der Ideologie oder der Warenfetisch.

Außerdem und vor allem kann man sich aber fragen, was man denn relevantes über zeitgenössische Formen von Herrschaft sagen kann, wenn man an Marx geschulte Instrumentarien außer Acht lässt und Herrschaft (anstatt als soziales) als kulturelles Phänomen begreift. Weil man aber unter anderem von Marx lernen kann, wie Herrschaft noch im Zeitalter der "Demokratie" in veränderter Form fortbesteht, nämlich durch Prozesse der Formalisierung, Ökonomisierung und Verrechtlichung hindurch, erscheint die Perspektive, die die Autoren einnehmen, als eine Personalisierung von Herrschaft, die deren zeitgenössisches Wesen auch verkennt. Auf diese Weise stattet das Buch den Souverän (man mag ihn heute wohl eher als in einem konkreten Regenten in einer komplexen hegemonialen Konstellation wiedererkennen) mit einem literarischen und fiktiven Körper aus, der allzu sehr an seine "neuen Kleider" erinnert. Der Versuch, den Kaiser an seinen alten Kleidern zu erkennen, bedeutet in heutigem Kontext daher nichts anderes, als ihm seine "neuen Kleider" wieder anzuziehen.

Ein bisschen hinterlässt das sinnvolle und gute Projekt, dem es um die imaginären Bestandteile politischer Herrschaft ging, damit also den Eindruck, (herrschaftliche) Politik zu ästhetisieren und literarisch aufzuwerten. Das kann nicht im Sinne des Autorenkollektivs gewesen sein.

Titelbild

Albrecht Koschorke / Thomas Frank / Susanne Lüdemann / Ethel Matala de Mazza / Andreas Kraß (Hg.): Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
281 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-10: 3596154480

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