Das Rauschen des Fortschritts

John Griesemers neuer Roman "Rausch"

Von Christian SchneiderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Schneider

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ozean schweigt. Zwischen dem alten und dem neuen Kontinent herrscht Funkstille. Wir befinden uns im Jahr 1857. Es wird noch eine Weile dauern, bis das Telefon erfunden ist, es schwebt noch kein Satellit um den Erdball. Doch es existieren zahlreiche mutige, tatenhungrige Männer, die sich nicht scheuen, ihren Beitrag zur Verbesserung der Welt mit den Mitteln des Fortschritts zu leisten.

1857 ist das Jahr des Stapellaufs des größten Schiffes aller Zeiten. Und es ist das Jahr, in dem das transatlantische Telegraphenkabel durch die Verbindung zweier Kontinente die Kommunikation revolutionieren soll. Doch der Fortschritt rollt nicht immer wie geplant.

Chester Ludlow ist Zeuge des misslungenen Stapellaufs der Great Eastern, eines Schiffes, das durch seine unglaubliche Größe die Allmacht der Technik dokumentieren sollte. Als junger Ingenieur bekommt er die Gelegenheit, federführend an einem der ehrgeizigsten Projekte der Geschichte mitzuwirken - der Verlegung des transatlantischen Kabels von Irland nach Nordamerika. Es geht um die Überwindung von Raum und Zeit, um die Verbindung der Völker über Kontinente hinweg, um den Segen der Technik und - um viel Geld.

So ist es denn nicht verwunderlich, dass die Investoren die Regeln für die Verlegung des Kabels diktieren und vor die technische Ingenieurskunst die Rekrutierung von Sponsorengeldern mittels eines Schauspiels stellen. Der verheiratete Ingenieur Ludlow verstrickt sich in eine leidenschaftliche Beziehung zur ebenfalls verheirateten Klavierspielerin Katerina Lindt. Während sich seine Frau Franny, die den Verlust ihrer gemeinsamen Tochter Betty nicht verwunden hat, dem Beschwören von Geistern und spiritistischen Ritualen verschreibt. Ihr aller Leben ist geprägt von Leidenschaft und Hingabe, von Missgunst und Neid, aber auch von Bewunderung und Verehrung; von Erfolg, aber auch von Niederlagen.

Die Verlegung des Transatlantikkabels verläuft nicht nach Plan. Nach misslungenen Versuchen und Rückschlägen ist es erst neun Jahre später soweit, dass die beiden Kontinente durch den Telegraphen verbunden sind. Dazwischen steht ein Bürgerkrieg, der auf dem neuen Kontinent die Schrecken der Technik offenbart und den Ingenieur zum Kanonfabrikanten macht. John Griesemer verwebt die Geschichte des Transatlantikkabels geschickt mit der Geschichte zweier Kontinente. Neben den authentischen Figuren des Kabelprojektes werden zahlreiche Figuren des Zeitgeschehens präsentiert: Karl Marx und das Präsidentenpaar Lincoln und natürlich darf auch Charles Dickens nicht fehlen, dessen epischer Sprachgewalt der Roman verpflicht ist.

Somit entsteht ein perfektes Panoptikum einer Welt des Umbruchs, die gekennzeichnet ist vom Glauben an den Segen des Fortschritts und doch in zahlreichen Nuancen genau das Gegenteil widerspiegelt. Und wie im Zeitalter der Internet-Euphorie sind am Ende viele Vorteile entstanden und der Traum von einer besseren, durch Nähe menschlicheren Welt ist vielleicht ein Stück näher gerückt. Doch der tatsächliche Gewinner steht eindeutig fest. Der Gewinner ist das Kapital.

Titelbild

John Griesemer: Rausch. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke.
Mare Verlag, Hamburg 2003.
700 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 393638486X

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