Joint Goods und Eigennutz

Annette Schnabel untersucht die neue deutsche Frauenbewegung im Blickfeld der Theorie rationaler Wahl

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Von Rolf Löchel

Sie habe nie ein Kind gewollt und dennoch habe sie nicht nur eines, sondern zwei bekommen. Es sei "grauenhaft" gewesen, noch grauenhafter als sie zuvor befürchtet hatte. Sie wolle kein Kind mehr: "Nie nie nie nie nie nie nie nie nie mehr ein Kind!" Denn es sei, "als ob sich ein riesiger Parasit in einem und auf einem bildet, dem man wehrlos ausgesetzt ist, den man nicht abschütteln kann. Ein monströser Parasit, der das eigene Leben zerstört, auffrisst, einen zerreißt, zerfetzt, körperlich, seelisch und geistig." Ein "Blutegel", "der einen aussaugt, und selber groß und kräftig wird". Erst "nach langen Jahren" werde er von den Männern, diesen "Schlächter[n], Töter[n], Massenmörder[n]" der Frauen, "zur Verwertung für ihre Gesellschaft abgenommen". Das "Todesurteil" der Frauen laute "Tod durch Mutterschaft", denn dieser Tod bringe den Männern "Früchte zur Verwertung und Beherrschung, Menschenmaterial." Ein emotionaler Aufschrei, den eine Feministin Mitte der 1970er Jahre unter dem Titel "Schwangerschaft ist tödlicher als der Tod" veröffentlichte.

Emotional ist er zweifellos, aber darum noch lange nicht irrational. Die Soziologin Annette Schnabel ist sogar der Auffassung, dass es rational sei, wenn Feministinnen ihre Emotionen pflegen. Gemeint ist damit freilich etwas anderes, nämlich, dass der Frauenbewegung, die emotionale Verbundenheit ihrer Aktivistinnen zugute kommt. Das aber gilt - wie natürlich auch Schnabel weiß - für jede soziale Bewegung, ja für jede Gruppe überhaupt. Das klingt nach Binsenweisheit, doch wartet Schnabel in ihrer sehr gründlichen und detaillierten Untersuchung der deutschen Frauenbewegung unter dem Blickwinkel der Theorie rationaler Wahl mit mehr als Binsenweisheiten auf. Zwar muss man beklagen, dass die eingefügten Exkurse nur mit Hilfe einer Lupe zu lesen sind, doch hat die Autorin eine ansonsten weithin gut lesbare Arbeit vorgelegt. So bleibt es glücklicherweise eine singuläre Ausnahme, dass die Ergebnisse ihrer Untersuchung, "wie die subjektiv erwarteten Nutzen und Kosten, die mit den Eigenschaften der verschiedenen Güterarten zusammenhängen, funktional miteinander verknüpft sein müssen, damit eine Bewegungsteilnahme individuell rational erscheint", in die leserInnenunfreundliche Ungleichung "[(qt(a)*U(a))+qt(b)*U(b)+U(c)] - [C(a1)+C(b1)+r*(1-p)*C(c1)] > (PNT*U(a)) - C(a2)" überführt wird, die nicht nur unanschaulich sondern auch überflüssig ist, da ausdrücklich "keine Operationalisierung im strengen Sinne eines ersten Schrittes zur empirischen Überprüfung" angestrebt wird.

Absicht der Studie ist es, die "Lücke" zwischen sozialwissenschaftlicher Theorie und dem empirischen Phänomen "neue deutsche Frauenbewegung" mithilfe der Theorie rationaler Wahl "zu verkleinern", wie die Autorin in bescheidener Zurückhaltung formuliert. Schnabels Erkenntnisinteresse zielt auf die Analyse der Mechanismen, "die gleiche Interessen zu gemeinsamen machen". Untersucht wird einerseits die "Übernahme der Bewegungsideologien in die individuelle Weltsicht" und andererseits "die Formung und Veränderung ebendieser Bewegungsideologie im Prozess der Bewegungsgenese". Hierzu geht Schnabel in drei Schritten vor. Zunächst fragt sie, "was eine soziale Bewegung ausmacht", sodann wägt sie verschiedene mögliche Antworten auf die Frage "warum und unter welchen Bedingungen soziale Bewegungen überhaupt entstehen können" gegeneinander ab, um schließlich im letzten - und interessantesten Teil - "konkrete Erklärungsmöglichkeiten" für Zustandekommen und Genesis der neuen deutschen Frauenbewegung aufzuzeigen, die über die zuvor diskutierten Erklärungsmodelle hinausweisen.

Natürlich spielen für die Frage, wie aus gleichen Interessen gemeinsame werden nicht nur die zwischenmenschlichen Emotionen der an der Frauenbewegung Beteiligten eine Rolle sondern auch deren Theorien und Ziele. Auf theoretischer Ebene unterscheidet Schnabel zwischen Gleichheits-, Differenz- und anti-essentialistischem Feminismus.

Schnabel konzentriert sich zwar auf die bloße Darstellung der unterschiedlichen Positionen und Ziele der Frauenbewegung, doch belässt sie es nicht dabei, sondern stellt selbst Überlegungen zur jeweiligen Überzeugungskraft der differierenden feministischen Positionen an, wobei allerdings der Unterschied zwischen Feminismus und Frauenbewegung nicht herausgearbeitet wird. So kann es zu Formulierungen kommen, denen zufolge "feministische Ideen" als "reflexiver Impuls einer bestimmten Frauengruppierung" aufgefasst werden können; womit sich trotz ihrer Kritik an der "biologische Fundierung gleicher Problemlagen" und der Erkenntnis, "dass die Gemeinsamkeit feministischer Interessen als Konstruktionsleistung von Gruppen und von Akteurinnen begriffen und als solche erklärt werden" muss, unter der Hand ein Biologismus einschleicht, der Feminismus an Geschlecht knüpft; als sei es nur Frauen möglich, feministische Theorien, Ideen oder Ideologien zu entwickeln, und als könnten nur Menschen der weiblichen Genusgruppe eine "feministische kollektive Identität" ausbilden. Dass Schnabels Problembewusstsein in diesem Punkt nicht sehr ausgeprägt ist (oder sie zumindest unbedacht formuliert), wird daran auch deutlich, dass sie selbst dann nicht eine geschlechtsneutrale sondern eine weibliche Form benutzt, wenn sie, wie in dem obigen Zitat, die Gemeinsamkeit feministischer Interessen als Konstruktionsleistung bezeichnet.

Schnabels zunächst wenig überraschendes Fazit lautet, dass die Ziele aller drei Flügel der Frauenbewegung unabhängig von den differierenden theoretischen Begründungszusammenhängen auf struktureller und kultureller Ebene für die individuelle Entscheidung zur Teilnahme an der Frauenbewegung unter dem Aspekt rationaler Wahl teilweise problematische "Kollektivguteigenschaften" aufweisen, die es aus "individueller Perspektive" nahe legen, mit dem eigenen Engagement abzuwarten, bis sich andere engagieren. Gemäß der Theorie rationaler Wahl sei es aus dieser Perspektive zudem "attraktiv", sich zunächst nicht an der "Erstellung" derjenigen Ziele der Frauenbewegung zu beteiligen, "für die die Kriterien der Nicht-Ausschließbarkeit und der Nicht-Rivalität im Konsum gelten und die nur durch Kooperation erstellt werden können". Unter diesem Gesichtspunkt liege - wie entsprechend für jede andere soziale Bewegung auch - für die Frauenbewegung das für die Theorie rationaler Wahl ebenso wenig wie für die anderen vorgestellten Theorien unlösbare "Rätsel des Bewegungsengagements" nicht so sehr darin, warum sich nicht mehr Frauen feministisch engagieren, sondern vielmehr darin, warum Frauen dies überhaupt tun. Eine Lösung des Rätsels bietet die Autorin unter Verknüpfung der Theorie rationaler Wahl und interpretativen Erklärungsansätzen an: Die Übernahme von Bewegungsideologien erfolge am nachhaltigsten in "emotional abgesicherten Gruppen", deren Entstehung sich mit dem "individuellen Interesse" an "joint goods" erklären lasse, die nur gemeinsam "produziert" werden können, wie etwa Aufklärung, Selbstexploration und Handlungsermächtigung. Dass nicht alle Frauen an der Frauenbewegung teilnehmen, erklärt Schnabel mit den individuell unterschiedlichen "Bedingungen der Übernahme alternativer Selektions- und Interpretationsregeln", wie sie etwas abstrakt formuliert.

Die Autorin beschließt ihre Untersuchung mit der Vermutung, dass aus der Perspektive de-konstruktiver Ansätze insbesondere die Netzaktivitäten von Cyberfeministinnen "als Möglichkeiten der Analyse und der Veränderung der Mechanismen des 'Doing Gender'" auf einen "third wave feminism" hoffen lassen könnten.

Titelbild

Annette Schnabel: Die Rationalität der Emotionen. Die neue deutsche Frauenbewegung als soziale Bewegung im Blickfeld der Theorie rationaler Wahl.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2003.
352 Seiten, 31,90 EUR.
ISBN-10: 3531140809

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