Aus der Zeit gefallen

Undine Gruenters letzte, posthum veröffentlichte Erzählungen sind altmodisch - und damit genau richtig

Von Doris BetzlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Betzl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Autorin Undine Gruenter, geboren in Köln, war Wahl-Pariserin. Im Oktober 2002 starb sie dort, erst 50-jährig. Die Protagonisten ihrer letzten 15 Erzählungen findet der Leser 200 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, an einem Badeort in der Normandie: "Sommergäste in Trouville" sind sie, und darüber hinaus scheinen sie zunächst wenig gemein zu haben. Sie finden einander nicht, obwohl sie mitunter dieselben Plätze am Ort aufsuchen, wie die Villa "La Bagatelle". Sie haben also eigenen Zeit-Raum für sich, und den brauchen sie, denn es sind eigenwillige Charaktere, die hier gezeichnet werden: Eine Frühpubertierende eröffnet mit ihrer "Übungsstunde" den Erzählband - im Schwebezustand zwischen kindlicher Fantasiewelt und ersten erotischen Provokationen. Eine zarte, alte Madame startet in "Hortensien und Stanniolpapier" einen zauberhaften, Aufsehen erregenden Protest gegen die behördliche Einschränkung der Lebensfreude am Strand. In einer Urlaubsregion spielen die Geschichten, spannen aber dabei auch abseits des "Ferien-Ausnahmezustands" die unterschiedlichsten Lebenswelten zur Betrachtung auf: Die Eigenheiten eines Hotelbesitzers, eines alternden Paares, das Gehabe von Anwälten, Adel und Bürgertum. Ein wenig altmodisch wirkt der Duktus der Szenen, eine Stimmung, die Romanen der Wende zum 20. Jahrhundert zu entstammen scheint.

"Wären meine Tage in Trouville Gegenstand einer modernen Erzählung", so sinniert ein Autor aus Paris in der Erzählung "Impasse du Bon Secour", "wäre es ein gelungener Schluß, wenn der Schriftsteller wieder abreiste, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Man reist an, bleibt, verbringt einsame Tage in Cafés und im Hotel, und reist wieder ab - ein offenes Kunstwerk". Hübsch ist, Undine Gruenters Geschichten sind ebenso: moderne Kunstwerke, in denen das Verweigern der "unerhörten Begebenheit" zelebriert wird: Die einsamen Tage des Städters in Cafés bekommt der Leser serviert, doch ob der Protagonist sein (im übrigen nicht sonderlich spannungsreiches) Vorhaben umsetzen wird, eine ruhige Zufluchtsstätte im Badeort zu kaufen, erfährt der Leser nicht - die Geschichte wird zuvor ausgeblendet. Und wenn an anderer Stelle im Band die Möglichkeit zur erotischen Affäre besteht, dann bleibt sie ungelebt.

Statt dessen wird die Aufmerksamkeit genau beobachteten Details und atmosphärisch aufgeladenen Momenten gewidmet. Heute, da die Postmoderne als literarische Strömung abgelöst ist, wirkt dieses Beharren auf charmante Weise antiquiert - eine Form, die mit dem Sujet der Erzählungen korrespondiert: "Und dann sagte er, und jetzt wollen wir in den Garten gehen, ein Zitat aus einer Erzählung von Keyserling, eine Familienformel, die den Abschluß aller Debatten, aller Streitigkeiten ankündigte, die im Innern des Hauses stattfanden. Auch den Abschluß der Frage, ob man seine Epoche überlebt hatte oder nie in sie hineingewachsen war, ob man aus der Zeit gefallen war oder nicht in die Gegenwart passte".

"Sommergäste in Trouville" ist ein elegantes Buch mit filigranen Szenen und mondänem Interieur. Umso mehr vermisst man eine sorgfältiger redigierte Form mit den richtigen französischen Accents, mit korrekten Genitiv-Formen und passenden Wortendungen.

Titelbild

Undine Gruenter: Sommergäste in Trouville. Erzählungen.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
214 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446202706

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