Die Avantgarde des Tabubruchs

Zum Grotesken in der Werbung

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Groteske Gestalten gehören seit Menschengedenken zu unserer Zivilisation. Seien es Teufelsgestalten mit menschlichem Antlitz und tierischem Körper in den ersten steinzeitlich bewohnten Höhlen, fratzenhafte Dämonen in den Seitenschiffen der frühen Basiliken oder androidenartige Mischwesen aus Fleisch und Stahl in den Zukunftsvisionen unserer Tage: All jene Phantasmagorien sind Teil unseres Selbst und Ausdruck nicht nur einer überbordenden menschlichen Phantasie, sondern auch des Wunsches, unserer innersten Angst vor dem Fremden, Unverständlichen, Unbeherrschbaren Figur und Gestalt zu geben. Seit die ersten grotesken Malereien in Höhlen gefunden wurden, üben diese unbegreiflichen Mischwesen auf ihre Betrachter eine große Faszination aus und gleichzeitig jene spezifische Mischung von Angezogensein und Abstoßung, die für das Groteske so charakteristisch ist.

Doch nicht nur in der Bildenden Kunst oder der Literatur sind Formen des Grotesken auffindbar. Selbst heute in unserer Mediengesellschaft sind Grotesken jeder Art und Variation alltäglicher Bestandteil der Weltwahrnehmung - vor allem auch auf einem so modern anmutendem Gebiet wie der Anzeigenwerbung.

Sei es ein Bierbrauer, der seine Flaschen in einer Kampagne wie den Torso einer nackten weiblichen Frau darstellt, um dem Gerstensaft so eine erotische Komponente zu verleihen, ein Tabakhersteller, dessen mit menschlichen Zügen versehene Zigaretten als personifizierte Versuchung umherwandeln oder ein Spirituosenhersteller, der einen grotesk verkleinerten Rocker als "Geist in der Flasche" das Belebend-Wilde des Getränks betonen lässt - in all diesen Kampagnen ist das Groteske präsent und übt eine weitaus größere Wirkung auf die Rezipienten aus, als diese sich oftmals eingestehen.

Das Groteske ist also mitnichten ein antiquiertes Gestaltungsmittel aus der Bildenden Kunst, aus Zeiten, in denen die Welt noch rätselhaft und noch nicht in allen Belangen erklärbar war, sondern wird bis heute als Motiv verwandt. Doch mit welcher Intention und Wirkung?

Zur Annäherung an die Bedeutung des Grotesken in der zeitgenössischen Werbung ist es zunächst hilfreich, die Intention des Mediums selbst kritisch zu hinterfragen. Werbung ist alltäglicher Bestandteil des modernen Lebens. Fast ständig sieht sich der Mensch mit verlockenden Anpreisungen und unhaltbar scheinenden Glorifizierungen konfrontiert, die gleichermaßen offen wie unterschwellig die Neuheit und Notwendigkeit des beworbenen Produkts suggerieren. Da der Markt in unserer heutigen Konsumgesellschaft dicht gedrängt ist und von regem Wettbewerb bestimmt wird, muss sich eine Werbeanzeige in ihrer Wirkung beim Rezipienten von vielen mitkonkurrierenden Anzeigen unterscheiden: sie muss auffallen. Eine Werbeanzeige kann als gelungen gelten, wenn sie sich durch geschickte Strategien so weit von den Werbungen der Mitbewerber absetzt - positiv wie negativ -, dass sie im Gedächtnis des Rezipienten haften bleibt. Erinnert wird nicht die Norm, erinnert wird das Extravagante, Irritierende - und somit erschließt sich bereits die Bedeutung des Grotesken als Stilmittel auch der modernen Werbung:

"Um aus der Konkurrenz von Wiederholungen herauszustechen, ist [...] noch ein Weiteres vonnöten: ein besonderer Witz, etwas Skandalöses, etwas besonders Ungewöhnliches" (Jutta Halbach).

Um nun die Verwendung grotesker Muster in der heutigen Anzeigenwerbung verstehen und von jener in der Literatur abgrenzen zu können, ist zunächst eine genauere Klärung des Begriffs des Grotesken vonnöten - eines Begriffs, der in der Literaturwissenschaft ebenso schwammig wie umstritten ist. Noch immer gilt Wolfgang Kaysers Untersuchung "Das Groteske und seine Gestaltung in Dichtung und Malerei" (1957) als Hauptbezugswerk in der Forschung. Kayser untersuchte das Wesen des Grotesken auf die Frage seiner Funktion hin und wagte die Synthese der verschiedensten Groteskenformen zu einer verallgemeinernden Theorie. Dabei gelangte er vor allem zu einer Hauptaussage: "Das Groteske ist die entfremdete Welt". Groteske Gestaltungsformen, so Kayser, versinnbildlichten das Aufkeimen des Unerlaubten, Verdrängten, Verbotenen - des Wahnsinns, der das, "was uns vertraut und heimisch war, [...] plötzlich als fremd und unheimlich enthüllt". Im Grotesken werde die vertraute, heimische Weltordnung des Rezipienten in größtmöglicher Plötzlichkeit erschüttert - so dass "die Kategorien unserer Weltordnung versagen". Das Groteske wird so zum Medium der Begegnung des Menschen mit der Unberechenbarkeit.

Eine weitere Theorie des Grotesken, die zur Klärung seiner Nutzung in der Werbewirtschaft nützlich erscheint, ist jene erst kürzlich publizierte des Kölner Germanisten Peter Fuß. Für ihn ist das Groteske nicht nur ein Medium zur Darstellung der "entfremdeten Welt" wie bei Wolfgang Kayser, sondern vor allem ein "Medium des kulturellen Wandels". Indem das Groteske sich auf eine vorhandene Ordnung berufe und deren Fragmente rekombiniere, stelle es jene gleichzeitig infrage und dekonstruiere sie: "Das Groteske liquidiert den dichotomischen Aufbau symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen und ersetzt ihre Antagonismen durch Ambiguität". Dadurch also, dass das Groteske Dinge verkehrt und in Frage stellt, die bis dahin als Antagonismen, als religiös, soziokulturell oder tradiert-geschichtliche Sicherheiten sozusagen nicht diskutabel waren, schafft es Fuß zufolge eine Mehrdeutigkeit, die den Rezipienten die Richtigkeit des vorherigen Ordo anzweifeln lässt. Mit dieser Tatsache steht für Fuß auch eine "konstitutive Kernparadoxie" des Grotesken fest: "Es ist Teil jener Ordnung, deren (immanente) Dekomposition es betreibt. Es ist zugleich diesseits und jenseits der Grenzen seiner kulturellen Formation". Im Grotesken komme so das Ausgeschlossene und Marginalisierte einer Kulturgesellschaft erstmalig wieder zur Sprache, werde benannt und konkretisiert. Indem die Kultur mit ihrem Fremden kollidiere, werde der Schein der Unhinterfragbarkeit erschüttert, mit dem die Kulturordnung sich im Zuge ihrer Instituierung umgeben habe. In der Folge entstehe so eine Ununterscheidbarkeit zwischen zuvor fest geglaubten Dichotomien, "die zur Quelle der Veränderung werden kann. Die virtuelle Anamorphose symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen eröffnet die Möglichkeit ihrer realen Transformation und hält die Kulturformation in Gang".

Es sind vor allem drei Techniken des Grotesken, die ebenjene Begegnung mit dem Fremden, Unbekannten, Verdrängten zu leisten imstande sind: Zum einen die Invertierung, bei der die Dichotomien der bekannten Welt umgekehrt und in Gegenteil gewendet werden (beispielsweise das Kloster Thelem in Rabelais' "Gargantua", dessen Ordensbrüder mitnichten die gläubigsten, weisesten, rechenschaffendsten ihrer Zeit sind, sondern Bettler, Halunken, Zwielichtige - jene, die in der "herkömmlichen" Weltordnung niemals in ein Kloster aufgenommen worden wären). Zum anderen kann das Monströse, also die übertriebene Übersteigerung oder Verzerrung von Formen und Relationen (so etwa Gargantua selbst, der groteske Dimensionen aufweist und missgestaltet ist), als eine Kernkomponente des Grotesken gelten. Als dritte und letzte Gestaltungsform des Grotesken sei hier das Chimärische genannt; also die Vermischung von realiter Unvereinbarem (etwa Mischwesen in Gemälden Hieronymus Boschs mit Spaten als Beinen oder dem Henkel einer Kaffeekanne als Rücken); hierbei müssen biomorphe, technomorphe und anthropomorphe Formen unterschieden werden. Das Groteske birgt so also die Vermischung von Realität und Fiktion sowie einen Dualismus zwischen Anziehung und Abstoßung, Faszination und Rückzug in sich. Das "thaumazein", die schockartige Begegnung des Rezipienten mit der "anderen" Realität, ist ambivalent und zwiespältig.

Im Gegensatz zu den hier beschriebenen Funktionen des Grotesken in der Literatur sind chimärische Mischwesen, riesig aufgeblähte Monstren oder technomorphe Gestalten in der Werbung nicht Ausdruck einer Zwiespältigkeit der Welt; ebenso wenig versinnbildlichen sie die Dissoziation einer Welt-, Kultur- oder Persönlichkeitsordnung im Sinne Wolfgang Kaysers. Vielmehr werden sie aus reinem Verkaufskalkül eingesetzt. Insofern kehrt die Groteskennutzung in der Werbung in der Art ihrer Verbildlichung zurück zu jener in der Malerei der Renaissance: Das Visuell-Groteske steht im Vordergrund, da der Blick des Betrachters binnen Sekundenbruchteilen gefesselt und zum genaueren Studium der Anzeige verführt werden muss. Die Werbung wird so zu einer Art "Biblia Pauperum", die nicht aufgrund eines Analphabetismus der Rezipienten, sondern vielmehr deren Rezeptionsfaulheit wegen ein schnelles und nachhaltiges Mittel der Kommunikation darstellt.

Von entscheidender Relevanz für den Erfolg der Werbung ist somit der Blickfang, der "Eye-Catcher", der durch seine Ungewöhnlichkeit im Gedächtnis des Betrachters haften bleibt. Groteske Elemente mit ihren Techniken der Invertierung, der Chimärenbildung und den Monstrositas-Formen leisten in der modernen Werbung genau dies: Sie bilden durch ihre Ungewöhnlichkeit, durch ihre ungewohnte Kombination von scheinbar Unvereinbarem eben jenen "eye-catcher", ein gleichsam eingebranntes Bild auf der Gedächtnismatrix des Konsumenten. So abgebrüht, durch nur noch Weniges schockierbar scheinen die heutigen Konsumenten zu sein, dass das Groteske in der ausgereizten Massenmedialität zusammen mit dem Genre der schockierenden Werbung die fast einzige Möglichkeit ist, sich noch vom Gewohnten abzuheben. Walter Kroeber-Riel spricht im Zusammenhang von "überraschenden Reizen", die ein "eye-catcher" stimulieren müsse, denn auch explizit von grotesken Motiven:

"Überraschende Reize sind Bilder, die gegen Wahrnehmungserwartungen des Empfängers verstoßen. Sie stimulieren dadurch seine gedanklichen Aktivitäten. Es handelt sich um Bilder, die mehr oder weniger von einem Schema abweichen: eine Frau mit einem Schweinekopf, ein Mann mit einem Vogelkopf, ein Klavierspieler im Bach."

Das Werbebild kann seine Intention des "Auffallens" dabei auf zweierlei Arten erreichen:

Entweder entspricht das Bild dem Sachverhalt des Beworbenen und übersetzt diesen ins Visuelle, oder aber es löst sich mehr oder weniger von ihm und erreicht durch dessen indirekte und phantasievolle Umsetzung eine Aktivierung des mnemonischen Effekts. Bei beiden Varianten kommt das Groteske zum Tragen; in weitaus stärkerem Maße allerdings werden groteske Elemente mit dem Zweck der emotionalen wie geistigen Aktivierung losgelöst vom eigentlichen Sachverhalt des Beworbenen verwandt. Letztere Aktivierungsstrategie impliziert jedoch ein Problem, das mit als Hauptgrund für "missglückte" Werbekampagnen gelten kann: Ist das durch das Groteske gestaltete Werbebild zu unabhängig und losgelöst von der Werbebotschaft, so läuft die Anzeige Gefahr, wegen einer zu geringen Informationswirkung nicht oder nur unvollständig im Gehirn des Betrachters abgespeichert zu werden. Das Ziel der Werbung - die Memorierung des ungewöhnlichen, grotesken Bildmotivs in Verbindung mit dem beworbenen Produkt - wäre in einem solchen Fall verfehlt worden. Diese ständige Gratwanderung der grotesken Werbung zwischen einer die Käufer faszinierenden Anziehung und entfremdender Abstoßung entspricht dem Wesen des Grotesken selbst, das in seiner Dualität ja immer sowohl anziehend bzw. faszinierend als auch abstoßend und erschreckend ist. Eine grundlegende Übereinstimmung des Grotesken in Literatur und Werbung wäre hiermit benannt.

Bei ihrer Gestaltung und Motivwahl nutzt die Werbung einen Pool an gesellschaftlichem Wissen über das, was erlaubt ist und was nicht. So werden die Grenzen des Machbaren und des Erlaubten einerseits legislativ durch die geltenden Gesetze (das Werberecht) bestimmt, die beispielsweise garantieren, dass in der Werbung grundlegende Prinzipien wie die Menschenwürde, der Schutz der Persönlichkeit oder auch geltende Wettbewerbsordnungen nicht verletzt werden. Über diese rein legislativ bestimmte Grenze des Erlaubten hinaus sind für die Werbetreibenden zusätzlich vor allem die Begriffe Ethik und Moral von Bedeutung.

Hierin liegt ein Grundproblem der Werbung begründet: Einerseits muss sie sich im gesetzlich wie ethisch vertretbaren Rahmen bewegen und somit "normiert" werden, andererseits sieht sie sich vor die Notwendigkeit der Unterscheidung von konkurrierenden Anzeigen gestellt, um das beworbene Produkt beim Rezipienten zu memorieren. Eine Werbeanzeige bewegt sich also immer auf einem schmalen Grat zwischen gesellschaftlich verlangter Normalität und marktwirtschaftlich notwendiger Innovation, zwischen der Konformität des Gewohnten und dem mnemonischen Erfolg des noch nicht Dagewesenen und Fremdartigen, auch wenn jenes die ethischen Grenzen übertreten mag. Wird die Abstoßung des grotesken Moments in der Werbung und damit die Provokation zu groß, dann kann es sein, dass sich der gewünschte mnemonische Effekt umkehrt. Der Konsument wird entweder irritiert, weil er die Provokation des Grotesken im Gedächtnis nicht mehr mit dem beworbenen Produkt verbindet; oder aber er fühlt sich von der Normüberschreitung so abgestoßen und persönlich verletzt, dass er das "thaumazein" negativ konnotiert und aus Abscheu oder Unwillen das Produkt nicht kauft.

Ziel der Werbetreibenden muss es also sein, ein Gleichgewicht zwischen der (auch provokativen) Abstoßung durch die werbliche Umsetzung des Sachverhalts und einer werbefördernden Anziehung aufrecht zu erhalten, um eine Erinnerungsleistung im Gehirn des Betrachters auszulösen. Da in der heutigen Medienlandschaft fast alle Irritationen bereits bekannt und die Möglichkeiten der Extrapolierung sehr eingeschränkt sind, dient das Groteske als fast letztes Mittel des Verlassens der ethisch-gesellschaftlichen wie rezeptiven Norm. Ähnlich wie in den Kirchenfresken des Mittelalters, auf denen Teufelsgestalten das Unerlaubte und jenseits aller (christlichen) Norm Stehende visualisierten, ähnlich wie in den Sprachgrotesken eines Johann Fischarts, der durch groteske Hyperbolik humoristisch eine karnevaleske Alternative zur Realität ausdrückt, verlässt auch die groteske Werbung das Feld der gewohnten Rezeptionsmuster - und in manchen Fällen auch jenes des ethisch Vertretbaren.

Wenn eine Werbeanzeige mit Hilfe des Grotesken den Rahmen des gesetzlich, gesellschaftlich oder individuell-moralisch Gewohnten verlässt, verbildlicht sie das Ungewohnte und macht es somit erstmalig greif- und diskutierbar. Die Trennlinie zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem wird - wie schon bei Foucaults Diktum von der Grenze, die erst durch ihre Übertretung fassbar werde, erst im Rückbezug deutlich. Erst, wenn eine umstrittene Werbung auf den Markt kommt, das bislang nur schwammig umrissene Unerlaubte visuell benennt und in der Folge heftig diskutiert wird, konkretisiert sich die Norm in der Verletzung des individuellen und vielleicht auch gesellschaftlichen Geschmacksempfindens. In dieser Konkretisierung der Grenzregion zwischen Norm und Unerlaubtem ist auch auf dem Feld der Werbung tatsächlich ein Kulturwandel denkbar: Befindet die gesellschaftliche Diskussion, die die Normen verletzende Werbung sei zwar provokant, jedoch nicht so verwerflich, dass sie verboten werden müsste, so hat sich die Grenze des Erlaubten bereits nach außen verschoben. Im Sinne Peter Fuß' wäre eine Ununterscheidbarkeit des Unerlaubten vom Erlaubten entstanden: "Das Groteske liquidiert den dichotomischen Aufbau symbolisch kultureller Ordnungsstrukturen und ersetzt ihre Antagonismen durch Ambiguität".

Denkbar scheint außerdem, dass eine unerlaubte Werbung als Präzedenzfall für alle nachfolgenden dienen und die Grenzen des Erlaubten dauerhaft weitern kann: Indem der Verstoß gegen die Norm gerügt und die Werbung vielleicht sogar verboten wird, entsteht gleichzeitig auch eine Art Messlatte für einen derartigen Normenbruch, die noch ein Stück jenseits der bisherigen Grenze zum Erlaubten situiert ist. Wenn nachfolgende Werbungen nun einen sachlich ähnlichen Verstoß begehen, der ein wenig unspektakulärer scheint, zwischen der ehemaligen Grenze und der jetzigen Messlatte anzusiedeln ist und wegen der Schwere des vorangegangenen Präzedenzfalles nicht verboten wird, dann hat sich die Grenze zwischen Norm und Unerlaubtem an dieser Stelle verschoben und ist gedehnt worden.

Zwei Beispiele sollen verdeutlichen, wie das Groteske auch in zeitgenössischen Werbeanzeigen zum Tragen kommt. Diese Anzeige des Computerkonzerns Microsoft für seine neue Videospielkonsole "x-box" arbeitet mit einer indirekten Technik. Zu sehen ist ein Rochen an einem Strand, auf dessen Rücken in einer technomorphen Vermischung die Haltegriffe eines Surfbretts angebracht sind. Das Tier wird durch diese Form der grotesken Chimärenbildung selbst zu einem Surfbrett. Die Anzeige suggeriert, man könne, auf dem Rücken des Rochens stehend, diesen als Sportgerät nutzen und mit ihm durch die Wellen surfen. Deutlich wird hier die Bedeutung der Vermischung und damit der Rekombinierung von bislang Unvereinbarem als einer der Grundkonstanten des Grotesken: Ein neues, fiktives Wesen entsteht, dem der Betrachter sogleich eine vollkommen andere "Nutzungsfunktion" zuweisen wird. Verstärkt wird dieser Eindruck noch durch die Morphologie des Schwanzes mit der einer Computermaus. Das Groteske hat also eine fiktive Realität geschaffen, deren Wirkungs- und Handlungsspektrum gegenüber der "realen" Realität um ein Vielfaches erweitert wurde. Das Groteske wirkt in dieser Werbung vorrangig als eye-catcher, da es eine Irritation beim Betrachter erzeugt; andererseits ermöglicht es durch die freie Bildassoziation die visuelle Umsetzung eines in einer Printwerbung sonst nur schwer zu bewerbenden Produkts. Da die Vorteile einer neuen Spielekonsole nur schwerlich in statischen Bildern vermittelbar sind, ist die groteske Vermischung mit ihrer zur Komik reizenden Fremdheit wohl mit die einzige Möglichkeit der Visualisierung. Ebenso sichtbar ist an diesem Beispiel die schon vielfach dargestellte Ambivalenz des Grotesken. Mag der Anblick eines Rochens mit aufgesetzten Haltegriffen auf der einen Seite befremden, schockieren oder gar abstoßen, so wirkt die ungewohnte Kombination von technischem Instrument und Tier doch auch komisch und belustigend. Die Dualität zwischen Anziehung und Abstoßung, die für das Groteske so charakteristisch ist, ist in dieser Werbung deutlich erkennbar. Gleichzeitig liegt hier eine Anzeige vor, die die Kulturgesellschaft wohl aus dem Grund nicht verändern wird, weil sie deren normative Grenzen und ihr Moralempfinden nicht verletzt - die Werbung ist zu 'harmlos'.

Anders bei diesem zweiten Beispiel, einer Anzeige des Elektronik-Konzerns "Media-Markt". Sie soll zeigen, wie eine Werbung sehr wohl dadurch einen gesellschaftsverändernden Effekt haben kann, dass sie geltendes Moralempfinden verletzt. Zu sehen ist eine junge Frau in Slip und BH, die sich lasziv auf Knien und Händen abstützt und den Betrachter anblickt. Sie hat in Form einer grotesken Monstrositas-Gestalt drei statt zwei Brüste und bückt sich soweit vor, dass diese kaum noch verhüllt sind. Der begleitende Werbetext lautet: "Mehr drin, als man glaubt!" bzw. "Media - Markt. Mehr für den Euro". Schon hier wird deutlich, wieso diese Anzeige zu den Beispielen mit einer indirekten Bildumsetzung zu zählen ist: Das abstrakte Faktum, dass die Produktpalette des "Media-Markt" größer und seine Produktpreise tiefer seien als vom Rezipienten jemals erwartet, muss nicht mehr durch die Abbildung von heruntergesetzten und verbilligten Artikeln vermittelt werden. Wiederum wird hier ein vollkommen anderer Sachverhalt für die Bewerbung des eher abstrakten und unkonkreten Begriffes "Media-Markt" verwendet; die Anzeige drückt die abstrakte Werbebotschaft vom "Media-Markt" als einem die Erwartungen in jeder Hinsicht übertreffenden Ort durch eine Bildanalogie aus. Dem Betrachter obliegt es, bei der Rezeption der Anzeige den Analogieschluss zwischen dem "Mehrwert" in Bezug auf die Brüste der Frau und dem Mehrwert in Bezug auf den "Media-Markt" zu ziehen.

Das groteske Moment hat in dieser Anzeige in hohem Maße die Bedeutung eines "Eye-Catchers". Generell ist das Motiv des Weiblichen mit einer erhöhten Anzahl von Brüsten ein uraltes und seit jeher benutztes groteskes Thema - bei alten Göttinnendarstellungen in den südamerikanischen und buddhistischen Zivilisationen oder auch im chinesischen Kulturkreis ist der Topos der mehrbrüstigen Frau das zentrale Symbol für Fruchtbarkeit und Empfängnis. Und so zeigt sich auch an dieser Werbung in expliziter Weise die Bedeutung der Dualität zwischen Anziehung (die sehr oft auch erotischer Natur ist) und der Abstoßung durch das Groteske der Darstellung. Die vorliegende Abbildung der mehrbrüstigen Frau spielt ganz eindeutig mit dem erotischen Moment, die ganze Anlage der Anzeige ist auf eine verführerische, erotisch-sexuell anziehende Wirkung hin ausgerichtet. So ziehen die verführerische Pose, die glänzenden Lippen mit dem halb geöffneten Mund, der schon schmachtend zu nennende Blick und - als zentrales Moment - die drei Brüste im nur sehr knappen BH den Betrachter in ihren Bann - allein die rein visuelle Anziehung dürfte somit beim Rezipienten sehr groß sein. Ein Übriges tut der dunkelrote Hintergrund der Anzeige - schon seit jeher gilt die Farbe rot als Inbegriff des Erotischen und Verführerischen. Zum anderen aber stößt die Ungestalt der Frau mit ihren drei Brüsten aber auch sehr ab, da die verfremdete Figur extrem real ist und vorstellbarer wirkt als ein Fabelwesen mit einer Kaffeekanne auf dem Rücken. An wohl kaum einer anderen Anzeige dürfte derart klar deutlich werden, wie sich im Gehirn des Betrachters eine sehr ambivalente Mischung aus Anziehung und Abstoßung, aus forschendem "thaumazein" und Widerwillen bildet.

An dieser Anzeige lässt sich nachvollziehen, wie eine Werbekampagne mit Hilfe des Grotesken durchaus zu einem Medium des kulturellen Wandels im Sinne Peter Fuß' werden kann. Nachdem die Anzeige im Dezember 2001 bundesweit plakatiert worden war, erregte sich in vielen Teilen Deutschlands die Öffentlichkeit über die Werbung; Strafanzeigen und Beschwerden beim Deutschen Werberat, der als normativ-legislative Kontrollinstanz über Verstöße gegen die geltende Werbeordnung wacht, gingen ein. Grund des Anstoßes war vor allem die als sexistisch und abwertend empfundene Darstellung der Frau, das gegen das individuelle Moralempfinden vieler Rezipienten verstoßen hatte. Schon kurze Zeit später zog der "Media-Markt"-Konzern die umstrittenen Plakate bundesweit zurück und erklärte, das Poster stelle zweifelsohne eine Ausprägung "schrägen Humors" dar; man habe niemanden diskriminieren oder beleidigen wollen. Vorangegangen war eine Rüge des Deutschen Werberats. Dass indes doch nicht alle Rezipienten die Diskriminierung von Frauen erkennen konnten, zeigen Äußerungen wie jene von Ruth Möller, die angibt, es habe "doch schon ganz andere Werbung" gegeben, weswegen sie sich über diese Anzeige nicht aufregen würde. An dieser Stelle bewahrheitet sich die These von den Präzedenzfällen, die nachfolgende Werbungen harmloser erscheinen lassen und somit die Grenze des Erlaubten weiter nach außen verschieben können. Für Ruth Möller hat sich diese Normgrenze durch andere, noch schlimmere Werbungen so erweitert, dass die etwas weniger provokante "Media-Markt" - Werbung nicht mehr ins Gewicht fällt. Andere Passanten teilten Möllers Ansicht. So urteilte Helmut Zangers urteilte schlicht, die Frau auf dem Plakat sei "doch nett anzusehen".

Am Beispiel dieser Kampagne wird somit einerseits klar, dass eine zu große aktivierende Wirkung im Sinne Kroeber-Riels in der Tat dazu führen kann, dass die Dualität zwischen Anziehung und Abstoßung sich einseitig zur Abstoßung und damit zum Widerwillen gegenüber der Anzeige und dem beworbenen Produkt verschieben kann. Dies gilt vor allem für jene Anzeigen, die provokativ riskieren, die Moralvorstellungen Einzelner zu verletzen.

Andererseits wird deutlich, dass eine groteske Werbung dann das Merkmal eines kulturtransformatorischen Mediums haben kann, wenn sie die Moralvorstellungen Einzelner bzw. die ethischen Richtlinien auf gesellschaftlicher Ebene übertritt. Dadurch, dass die Media-Markt-Anzeige eine Diskussion darüber ausgelöst hat, ob es in der Öffentlichkeit zulässig sei, eine Frau in lasziver Pose und mit drei Brüsten abzubilden, ist eine Unsicherheit im Sinne von Peter Fuß entstanden. In der Kollision mit der "grotesken Rezentrierung" ist der Schein der Unhinterfragbarkeit "durch den Hinweis auf mögliche Alternativen" erschüttert worden. Hatten sich die Rezipienten der Werbung vor deren Erscheinen in manchen Fällen vielleicht noch nie die Frage gestellt, ob eine derartige Abbildung erlaubt sei oder nicht, so ist diese Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem durch den Akt des Übertretens gezogen worden, wie Foucault es formuliert hat. Und somit kann die groteske Werbung - ähnlich wie auch die groteske Literatur - in dem Sinne kulturtransformatorisch wirken, wenn sie eine Diskussion auslöst.

Wenn Niklas Luhmann davon spricht, "alle Evolution [beruhe] auf der Amplifikation von Unsicherheiten, [...] auf dem Einarbeiten von Unsicherheiten in Sicherheiten und von Sicherheiten in Unsicherheiten" (Niklas Luhmann), so ist dieser Prozess an Werbebeispielen wie dem vorliegenden exzellent zu beobachten. Dort, wo eine groteske Werbung über eine Normgrenze hinaus gelangt, sei es eine individuelle oder als allgemeine Ethik anerkannte; dort, wo sie sich vom individuellen wie allgemeinen Wertekanon abgrenzt und so zur Provokation wird, bricht sie die Starrheit des Indiskutablen auf und generiert Unsicherheiten in Bezug auf das Normengefüge. So "repräsentier[t], realisier[t] und tradier[t] [sie] die Mechanismen der Kreativität", die schlussendlich zur Veränderung des Normenempfindens der Gesellschaft führen können. Für viele groteske Werbungen gilt dies sicherlich nicht - ihre Wirkung bleibt auf die bloße Erinnerungswirkung durch das Ungewohnte der Rezeption beschränkt. Verletzt die groteske Werbung jedoch jegliche Werte, dann dient sie auch der Transformation.

So kann die groteske Werbung in der Tat einen Normenwandel dadurch begünstigen, dass sie als schnelllebige Avantgarde durch die Generierung neuer Trends, Tabubrüche und die Notwendigkeit der Extrapolierung vor allen anderen, weitaus behäbigeren Medien voranschreitet. Folgerichtig hat Dieter Stolte, der ehemalige ZDF-Intendant, einmal formuliert: "Mit dem Wegfall der Werbung würde uns nicht nur Geld, sondern auch ein Stück Modernität verloren gehen".

Der Beitrag ist ein überarbeiteter Auszug aus:


Titelbild

Oliver Georgi: Das Groteske in Literatur und Werbung.
ibidem-Verlag, Stuttgart 2003.
166 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 389821253X

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