Schaffe "Momentum"!

Ein Motivationsseminar aus dem Hause Jung von Matt

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Galoppierender Herzschlag. Geweitete Pupillen über halb geöffnetem Mund. Der Sehnerv spielt verrückt. Mit zitternden Fingern schlage ich auf. Wenn Holger Jung und Jean Remy von Matt, führende Köpfe der Werbeagentur Jung von Matt sich hinsetzten, um ein Buch zu schreiben, darf man mehr als gespannt sein.

Das Problem moderner Werbung ist hinlänglich bekannt. Ein hohes Hintergrundrauschen an Werbebotschaften bei gleichzeitiger Austauschbarkeit der Produkte erzeugt auf Konsumentenseite eine immer größere Selektivität der Wahrnehmung. Der heutige Konsument ist anspruchsvoll. Souverän wählt er aus dem Überangebot an Kommunikation das aus, was ihn anspricht. Und: Er durchschaut die Werbung. Die ewig gleichen Demonstrationen des Dr. Best machen ihn ebenso wenig gewogen wie die Beteuerungen der Calgonit-Nachbarin. Er ist genervt, gelangweilt, distanziert. "Geringes Involvement" nennt das die Werbung. Die Frage lautet nur: Wie gewinne ich den verwöhnten Konsumenten, wie verführe ich diese "Primadonna"?

JvM wählen diesen Begriff nicht zufällig. Werbung, wie "die beiden Popstars der deutschen Werbung" ("Der Spiegel") sie verstehen, beruht auf einer Neujustierung der Optik. Der Verbraucher wird nicht länger als dummes Konsumschaf betrachtet, dem man alles mögliche unterjubeln kann. Als jemand, der der Werbung entgegengiert. Sondern als vornehm-distinguierte Persönlichkeit, der man sich am besten in devoter Haltung nähert. Auf Knien. - Verzeihung, dürfen wir Sie kurz belästigen? Und es versteht sich wohl von selbst, dass eine Privataudienz in der besseren Gesellschaft nur dann gewährt wird, wenn der Bittsteller Außergewöhnliches mitzuteilen hat. Etwas, das ihn unterhält, fasziniert und seine Aufmerksamkeit fesselt. Eine Botschaft mit "Momentum".

Im Momentum, dem Schlüsselbegriff der JvM-Philosophie, verschmelzen Vergnügen und Überzeugung. Momentum beschreibt den Augenblick, "in dem eine Werbeidee die Aufmerksamkeit in einen didaktischen Erfolg umwandelt". Das Erfolgsrezept von JvM gleicht dem des Trojanischen Pferdes, das die beiden Top-Kreativen zum Sinnbild ihrer Philosophie erwählt haben. Außen nette Verpackung, innen Hard Selling. Oder, weniger kriegerisch, dem des Überraschungseies. Das Momentum ist beides in einem: Spielen und Schokolade, Lernen und Unterhaltung. Es frappiert durch seine Unmittelbarkeit, hinterlässt aber eine bleibende Spur. Es durchbricht das Déjà-vu des schon Gesehenen, indem es eine kognitive Dissonanz auslöst und in den Köpfen etwas zum Rollen bringt. Nur so wird eine Botschaft vom Konsumenten gelernt und in nachhaltige Erinnerung umgewandelt.

Bei all dem kommt das Momentum immer auf den Punkt: Es kommuniziert nicht viele Botschaften, sondern beschränkt sich auf eine einzige. Diese schlägt dafür ein wie ein Projektil: zielgenau und mit geballter Wucht. So wie das Mädchen, das Holger Jung bei einem Konzert von Roxy Musik unter den Fans erblickte. Während auf den in die Luft gehaltenen Schildern in der Regel so etwas wie "I love you!" stand, hatte sie sich etwas anderes ausgedacht, um angesichts des Wettbewerbs bestehen zu können. Auf ihrem Schild stand: "I'm wet".

Erzeuge Momentum! "Momentum" gleicht nicht von ungefähr einem Motivationsbuch, das unermüdlich die eine Botschaft wiederholt sie und aus allen erdenklichen Perspektiven umkreist. Das Momentum will nicht nur analytisch erklärt, es will beschworen werden.

Aber wie stellt man das an? In erster Linie mit dem Bauch. Allein der Instinkt erkennt, welche Werbung wirklich ankommt. Es gibt keine Patentrezepte: "Die meisten großen Slogans hätten von Grundschülern geschrieben werden können." Momentum ist planbar, aber nicht programmierbar. Der Werbetreibende bewegt sich im Niemandsland zwischen Fühlen und Wissen, oft genug tappt er auch im Nebel. Vielleicht ist das Nachdenken über das Momentum deshalb so stark von Bildern geprägt, z. B. dem der Gratwanderung (auf der einen Seite die Kreativität, auf der anderen die Effizienz), dem der Audioaufnahme (keine Dynamik ohne "Hinterbandkontrolle"), dem es Eislaufes ("Die Pflicht muss genügen, die Kür muss begeistern"). Kreatives Momentum ist neuartig genug, ohne dabei an der Marktsituation vorbeizuzielen und den Verbraucher zu überfordern.

Erst dahinter haben sich die klassischen Instrumente der Werbung einzureihen. Vorausgesetzt, sie taugen etwas. Strategische Planung oder Tonality-Vorgaben setzten meist falsch an. Sie erkennen oft nicht, dass die einzige Chance auf Differenzierungsgewinn heute im kommunikativen Mehrwert von Produkten liegt, nicht in ihrem tatsächlichen Nutzen. Das gleiche gilt für falsch konzipierte Pretests. Oder auch für die ineffiziente Arbeit in einer Agentur. Um Kreativprozesse zu optimieren, lümmeln sich die JvM-Mitarbeiter nicht in bequemen Sesseln, sondern stehen ein Meeting wacker durch. Darum ist der Lobgesang auf die kreative Kraft des Momentums immer auch Kritik an der herkömmlichen Werbung. Momentum entsteht im Kopf des Menschen auf der Straße, nicht in den schick designten Büros der Mediaplaner.

Momentum zu erzielen, ist oft keine Sache des Einsatzes oder der Frequenz einer Mediaidee. Es ist eine Sache des Risikos und des Mutes. Lieber eine einzige, großformatige und überzeugende Anzeige, als zahllose abgedroschene Wiederholungen. Erst nach dem Lösen der Sicherheitsgurte kann eine Werbeidee ihre volle Schubkraft entfalten. Momentum ist "Highlight-Denke": "Auf der Terrasse gibt es nur Kännchen." Für die Werbung selbst bedeutet das: sie tritt offensiver, entschlossener und ehrgeiziger auf. Vielleicht auch angriffslustiger und aggressiver. Alles andere ist "Denkmalpflege", Werbung also, die ihren Marktanteil lediglich verteidigt anstatt ihn zu steigern.

Dennoch geht es im Momentum nicht um grobschlächtiges "Provozieren oder Verlieren". Kreatives Momentum tritt immer wohl bemessen und gut dosiert auf. In der vergleichenden Werbung macht es den Konkurrenten nicht einfach nieder, sondern kommuniziert seine Überlegenheit mit Charme und Witz. Bei selbstverpflichtenden Werbeversprechen arbeitet es von außen nach innen. In der Darstellung menschlicher Schwächen streichelt es das Mitgefühl und sorgt für Identifikation. Das unterscheidet das Momentum von der selbstbezüglichen Festival-Kreativität der Kreativ-Wettbewerbe.

Viel zu oft aber verbeugen sich JvM vor dem Momentum. Man nehme nur die Sixt-Reklame mit dem eingebeulten Porsche und dem Slogan "Sixt vermietet auch an Frauen". So einfach lässt sich die unverhohlene Frauenfeindlichkeit dieser Anzeige nicht vom Tisch wischen: "Frauen fühlen sich oft missverstanden, weil sie Inhalte emotionaler interpretieren als Männer." Mittels Momentum lassen sich Wahlsiege beeinflussen ("Der nächste Kanzler muss ein Niedersachse sein") oder ganze Städte in den Image-Ruin treiben (Sixt-Kampagne über Fulda als deprimierendster Stadt Deutschlands). Auf das Momentum folgt der Größenwahn.

Das gleiche gilt für die Überlegungen zur integrierten Kommunikation. Wiederum in ein Bild übersetzt: "Eine Faust hat mehr Kraft als fünf Finger." Damit ist gemeint, dass Kommunikation nicht in Zuständigkeiten aufgesplittert wird, sondern notfalls bei der Agenturspitze aufgehängt wird. Nur so spielen alle Mitarbeiter das gleiche Stück. In der Tat erfährt man in "Momentum" nichts über die hunderte von Mitarbeitern, sondern nur, welche grandiosen Ideen die beiden Bosse Jung und von Matt beim Spazierengehen, im Flugzeug, unter der Dusche oder auf dem Klo entwickeln. Das klingt alles sehr nach autokratischem Führungsstil und wenig Freiheiten für die Kreativen. Und hoffentlich steckt hinter der kreativen Faust nicht am Ende das Faustrecht der kreativen Befehlshaber.

Bei aller Begeisterung, die "Momentum" dem weniger zimperlichen Leser vermittelt, liegt dem JvM-Konzept unterm Strich ein eher konservatives Kommunikationsmodell zugrunde: Werbung soll den Konsumenten dazu bringen, den emotionalen Mehrwert, den ein Produkt transportiert, selbst zu formulieren. Momentum erzeugt eine Differenzierung, die jedoch immer noch deutlich von der Produkt- und Markenebene aus gesteuert wird. Damit bewegen sich JvM unterhalb der Schwelle einer selbstreferentiellen Imagewerbung, die ihr eigener Inhalt ist. JvM haben die Werbung daher nicht neu erfunden. Aber sie haben die Lust dazu geweckt.

Titelbild

Holger Jung / Jean-Remy von Matt: Momentum - Die Kraft, die Werbung heute braucht.
Lardon Media AG, Berlin 2002.
352 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-10: 3897690314

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