Wer war Jakob Michael Reinhold Lenz?

Zu Bert Kasties Neubestimmung des Sturm und Drang

Von York-Gothart MixRSS-Newsfeed neuer Artikel von York-Gothart Mix und Nadine SydowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadine Sydow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernd Alois Zimmermanns 1965 uraufgeführte Oper "Die Soldaten", Heinar Kipphardts Bearbeitung der "Soldaten" aus dem Jahr 1968, Peter Schneiders 1973 publizierte Erzählung "Lenz" oder selbst noch Wolfgang Hegewalds 1987 veröffentlichter Roman "Jakob Oberlin oder Die Kunst der Heimat" sind zwar ebenso wie die 1991 von Matthias Luserke und Christoph Weiß gegründeten "Lenz-Jahrbücher" Belege für ein neuerwachtes Interesse am Werk des 1751 in der livländischen Provinz geborenen und 1792 in Moskau verstorbenen Jakob Michael Reinhold Lenz, aber nach wie vor sind relevante Texte des Stürmer und Drängers schwer zugänglich, ja unediert oder so wenig erforscht wie die Fragmente und Entwürfe der letzten Jahre aus der Biblioteka Jagiellonska oder die ersten und letzten Dezennien seiner ungewöhnlichen Vita. "Die Philosophischen Vorlesungen für empfindsame Seelen" galten beispielsweise bis zur Neuedition durch Weiß 1994 als verschollen, der 1772 entstandene "Catechismus" war nur bruchstückhaft veröffentlicht, die im Todesjahr zu Papier gebrachte "Abgezwungene Selbstvertheidigung" wurde erst nach zwei Jahrhunderten publiziert.

Lenz haftet nach wie vor der Ruch des Erfolglosen an, sein problematisches Verhältnis zu Johann Wolfgang Goethe wirft ebenso wie die Umstände seine Todes immer noch Fragen auf. Während die dramatischen Werke von Lenz heute als eigenständig gewürdigt werden und bisweilen sogar auf dem Spielplan stehen, gelten seine weniger bekannten Prosadichtungen ("Zerbin oder die neuere Philosophie", "Der Waldbruder ein Pendant zu Werthers Leiden" oder "Der Landprediger") als Texte von eher sekundärer Bedeutung. Auch seine theoretischen und literaturkritischen Einlassungen zu Virgil, Ovid, Plautus, William Shakespeare, Goethe, Johann Gottfried Herder, Georg Christoph Lichtenberg, Heinrich Leopold Wagner oder Christoph Martin Wieland stehen nicht im Zentrum des Forschungsinteresses. Als Lyriker findet Lenz ungeachtet der 1968 von Hellmuth Haug zusammengestellten schmalen Auswahl bei Reclam kaum Beachtung, als Briefschreiber ist er so gut wie unbekannt geblieben. Im Standardwerk "Brieftheorie des 18. Jahrhunderts" von Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann und Herta Schwarz wird Lenz einmal, als Mitarbeiter von Johann Georg Jacobis "Iris", beiläufig am Rande erwähnt.

Demgegenüber gehört der Sturm und Drang zu den Epochen der deutschen Literatur, die seit Jahrzehnten das Interesse der Forschung auf sich ziehen. Wesentliche neuere Impulse gingen von Werner Krauss (1963), Gerhard Kaiser (1966), Christoph Siegrist (1978) und Karl Richter (1983) aus, die ebenso wie Sven Aaage Jørgensen, Klaus Bohnen und Per Øhrgaard in ihrem 1990 publizierten Überblickswerk "Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik" versuchten, die nach Friedrich Maximilian Klingers Drama "Sturm und Drang" benannte Epoche in ihrem Verhältnis zur Aufklärung neu zu situieren. Als Opinio communis der neueren Forschung gilt, den Sturm und Drang nicht mehr als Gegenströmung zur Aufklärung oder gar als Frühphase einer simplifizierend als Goethezeit apostrophierten Zeitspanne zu betrachten, sondern als Spezifizierung und Differenzierung aufklärerischen Denkens unter den Vorzeichen des von Johann Georg Hamann inspirierten Sensualismus sowie einer radikalen Individualisierung und Autonomisierung des Subjekts und der Ästhetik. Neben Goethe gelten vor allem Lenz, Herder, Klinger, Friedrich Schiller und Wagner als Exponenten der Epoche, und diesen Allgemeinplatz versucht die Studie "J. M. R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant" von Bert Kasties eingehend zu hinterfragen.

Die Intention von Kasties ist es, die bisherigen Forschungspositionen zu problematisieren, indem er nicht allein den Dramatiker, sondern auch den philosophischen Theoretiker und Prosaisten Lenz im Kontext seiner intensiven Rezeption der Schriften Immanuel Kants in den Vordergrund rückt. Kasties stellt das gängige Bild vom in die Zukunft weisenden, aber im Grundsatz gescheiterten Schriftsteller (vgl. u. a. Sigrid Damm, 1987) in Frage und versucht vor allem, Lenz in seinem Verhältnis zum Stürmer und Dränger Goethe neu zu positionieren. Da ein Werk wie "Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung" von Matthias Claudius oder Christian Daniel Schubart nicht Lenz, sondern Goethe zugeschrieben wurde und das Stück nach der Richtigstellung dieses Irrtums den Zeitgenossen als zweifelhafte Nachahmung, nicht aber als ein epochales und geniales Drama galt, setzt Kasties an einer zentralen Schnittstelle der traditionellen Bewertung an. Der Versuch einer Neubestimmung durch Kasties fokussiert deshalb anstelle der Bühnenpraxis die philosophischen Schriften des als gescheiterter Theoretiker geltenden Lenz. In der ausführlichen Einführung legitimiert Kasties sein Vorgehen und betont den enormen Einfluss Kants auf den Autor.

Im folgenden ersten Teil der Untersuchung wird die vom Pietismus geprägte Sozialisation und die Studienzeit bei Kant in Königsberg thematisiert. Kasties hebt hervor, dass Lenz unter dem Eindruck der von "Kant vermittelten Lesart der Wolffschen Tradition" zu einer Distanzierung vom Pietismus August Hermann Franckes gelangt, "dessen Überakzentuierung eines radikalen religiösen Tugendbegriffs die Möglichkeit unabhängig und individuell zu erlangender Glückseligkeit strikt ausgeschlossen und die Fürsprecher säkulärer Tugendlehren als Wegbereiter von in die Sündhaftigkeit führenden Irrwegen vehement bekämpft hat."(S. 57) Das besondere Verhältnis von Lenz zu seinem philosophischen Lehrer Kant wird auch durch das Widmungsgedicht "Als Sr. Hochedelgebornen der HERR PROFESSOR KANT den 21sten August 1770 für die Professor-Würde disputierte" dokumentiert, das Kasties seiner Studie voranstellt. Mit der auch von Lenz gefeierten Berufung erfährt die bis dahin wenig glanzvolle akademische Karriere des Königsberger Dozenten und Unterbibliothekars eine biographische, aber auch philosophische Wende: Zu dieser Zeit vollzieht Kant die "nach seinem späteren Selbstverständnis - kopernikanische Wendung zum Kritizismus."

Der zweite Teil analysiert die aus der Rezeption der Ideen Kants resultierenden Konsequenzen für das Œuvre von Lenz. In diesem Zusammenhang deckt Kasties die Aspekte einer transzendentalen Sittenlehre bei Lenz auf, die dem Einfluss Kants geschuldet sind: Gott, Inbegriff idealer Schönheit, animiert zur Nachahmung und weist den Weg zur Moralität. Da dem Menschen ein Trieb nach Vollkommenheit und Glückseligkeit immanent ist, der im großen Plan Gottes erfüllt werden kann, ist der vernünftige Mensch nach dem Prinzip der Uneigennützlichkeit moralisch verpflichtet. Das sittliche Bestreben ermöglicht eine Annäherung an Gott, der als Schöpfer selbst an die Naturgesetze gebunden ist, keinesfalls aber eine Gleichstellung oder Überhöhung. Die Sittenlehre von Lenz ist in explizitem Zusammenhang zur Propagierung einer ethischen Kunsttheorie zu sehen. Jedes Individuum, das nach Glückseligkeit strebt, muss auch die Glückseligkeit der anderen als Ziel seiner Handlungen anerkennen. Kunst, als Quelle der Erkenntnis aufgefasst und in sich selbst vollendet, soll das summum bonum vermitteln. Kasties konkretisiert die Parallelen, mitunter aber auch die Unterschiede zur philosophischen Lehre Kants und vertritt die These, Lenz verknüpfe eine transzendentale Ästhetik mit einem pädagogischen Kunstverständnis.

Vor diesem Hintergrund präzisiert Kasties die Differenz zur Kunstauffassung Goethes. Während Lenz die Aufgabe der Dichtkunst in der Hinführung zum Schönen und vernünftigen Handeln sieht, vertritt Goethe, ganz im Sinne seines 1774 entstandenen, aber erst 1785 unautorisiert publizierten Rollengedichts "Prometheus" eine schöpferische Kunstauffassung. Kasties konkretisiert in überzeugender Weise den Einfluss Kants, verliert aber die Bedeutung von Friedrich Gottlieb Klopstock, Gotthold Ephraim Lessing, Goethe, Herder, Shakespeare, Jean-Jacques Rousseau oder Miguel de Cervantes Saavedra aus den Augen und unterschätzt die Auseinandersetzung von Lenz mit Jean de la Chapelle, Guillaume Amfrye de Chaulieu, Molière, Paul Scarron oder auch François Rabelais. Lenz, der bisher immer im Zusammenhang mit Goethe erwähnt und über diesen definiert wurde, steht jetzt für sich selbst, wird aber auch durch die strikte Fokussierung auf Kant aus dem literarhistorischen Kontext gelöst. Ähnlich problematisch ist der Versuch von Kasties, den Sturm und Drang ungeachtet neuerer Lehrmeinungen als eine Vorbereitungs- und Entwicklungsphase für Goethes Werk zu charakterisisieren und Lenz neben Schiller und Heinrich von Kleist unter den Vorzeichen einer intensiven Rezeption Kants einer neuen Epoche zuzuordnen, als deren prägendes Moment er die Transzendalphilosophie sieht und die sich für ihn durch eine programmatische Verbindung von Moralität und spätaufklärerischer Vernunfttradition bestimmen lässt.

Kasties Versuch, zu einer Neubestimmung des Sturm und Drang zu kommen, bleibt auf diese Weise zu ungenau, zu undifferenziert und fällt partiell hinter die von Krauss, Kaiser, Siegrist, Richter, Jørgensen, Bohnen und Øhrgaard formulierten Einsichten zurück. Seine analytische und minutiöse Rekonstruktion des Einflusses von Kant auf das Œuvre von Lenz muss aber als interessanter Beitrag zur Forschung gewertet werden.

Titelbild

Bert Kasties: J.M.R. Lenz unter dem Einfluß des frühkritischen Kant. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Sturm und Drang.
De Gruyter, Berlin 2003.
279 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-10: 3110177005

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch