Zwischen Glücksmaximierung und Unglücksvermeidung

Alan Corkhill schreibt ein Buch über die Glückskonzeptionen im deutschen Roman von Wieland bis Goethe

Von Armin WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sind wir nun unseres eigenen Glückes Schmied? Oder können wir aus eigener Kraft doch bestenfalls nur davon absehen, unser Leben zu ernst und in der Folge einer solchen Haltung mögliches Unglück zu schwer zu nehmen? Diese Fragen, die auf immerwährendes Interesse rechnen dürfen, liegen dem aufgeklärten Jahrhundert mit seinem optimistischen Vertrauen auf die Kräfte des Menschen, Glück und Tugend zu verbinden, als Gegenstand der Reflexion besonders nahe. Darum verwundert es, dass diese Thematik im Hinblick auf den Roman der deutschen Aufklärung noch kaum erforscht ist. Mit seiner Arbeit zu den "Glückskonzeptionen im deutschen Roman von Wielands 'Agathon' bis Goethes 'Wahlverwandtschaften'" setzt sich Alan Corkhill das Ziel, diese Lücke zu schließen. Dabei verdeutlicht er anhand von neun Studien zu den bekannteren Romanen der Epoche von Wieland, Sophie von La Roche, Heinse, Moritz, Goethe (mit drei Romanen), Tieck und Sophie Mereau-Brentano auch Übergänge von der "mittleren Aufklärung zur Romantik": Verstärkt widmet sich die Literatur dieser Zeit dem Unglück anstatt des Glücks. Bloß erhofftes, aber nicht erlangtes Eheglück und das verpasste Glück in der Liebe überhaupt werden der vorrangige Anlass allen Sinnierens über das Thema, während die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Bedingungen des individuellen und des allgemeinen Glücks, aber auch die nach den Verpflichtungen des einzelnen, für das Gesamtwohl zu wirken, zurücktreten. Diese für den Zeitraum von knapp 50 Jahren (von 1766/67 bis 1809) zu beobachtende Veränderung stellt Corkhill in seiner Einleitung in den größeren Kontext der philosophiegeschichtlichen Entwicklung. Noch schärfer tritt in dieser Perspektive die Verschlechterung des menschlichen Glücksdenkens hervor. Von dem frühneuzeitlichen Vermögen, in einem Atemzug von "Gott, dem Menschen und seinem Glück" (Spinoza) sprechen zu können, führt hier der Weg zu Schopenhauers radikaler Absage an alle irdische Glückserwartung. Als Grund für diese Veränderungen vermutet der Autor ungewollte Nebeneffekte der Individualisierung und Privatisierung des menschlichen Lebens: "In dem Maße, in dem das Pendel ab dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts von der Maximierung des Glücks des Gemeinwesens in Richtung der Optimierung individuellen Wohlergehens hinschlägt [...], wird jegliche Vorstellung von der Objektivierbarkeit der Glückserfahrung entsprechend in Zweifel gezogen". Auf sich selbst verwiesen, wächst den Helden und Heldinnen der Romane eine Verantwortung für ihr Glück zu, deren Preis in dem Zweifel an der richtigen Gestaltung des eigenen Lebens besteht, wie die Schwärmer und Grübler unter den Protagonisten der Romane (Werther, Lovell, Anton Reiser, die beiden Eduards aus den "Wahlverwandtschaften" und aus "Amanda und Eduard") zeigen: Unglücklicherweise ist dies die beste Voraussetzung dafür, den eigenen Zustand nie als einen glücklichen anzusehen.

Corkhill setzt sich mit seinem Thema in Einzelanalysen auseinander. Dieses Verfahren erlaubt dem Autor, auf eine große Bandbreite von Themen einzugehen: auf das Verhältnis von Leidenschaft und Mäßigung der Affekte wie auf Tugend und Glück; auf die Beziehungen von individuellem Glückserleben und (utopischen) Staatsentwürfen (vor allem bei Wieland und Heinse); auf Glückserwartungen an die Liebe, aber auch schon - im Hinblick auf Sophie Mereau-Brentano - auf solche Erwartungen an die berufliche Selbstverwirklichung. Ebenso kann er auf den Anteil der Leidenschaften am Glück oder aber noch auf die von Diderot aufgeworfene Frage zu sprechen kommen, ob das Glück sein kann, was für alle gleich ist. Mit der Berücksichtigung von Sophie von La Roche und Sophie Mereau-Brentano verbindet sich ein Interesse an der Gestaltung des Themas durch schreibende Frauen, wie Corkhill auch in den Analysen der anderen Romane dem Verhältnis zwischen (einengenden) Rollenerwartungen an Frauen und möglichen Glücksentwürfen erfreulicherweise große Aufmerksamkeit schenkt. Die Form der Romane bezieht Corkhill freilich weniger ein, obwohl die Handlungsverläufe (als 'konstruierte' oder dem 'Zufall' gehorchende) auch aufschlussreich sein könnten hinsichtlich der Glückskonzeptionen ihrer Verfasser. Gerade der "Wilhelm Meister" Goethes, an dessen Ende Wilhelm "ein Glück" fast ohne eigenes Zutun in den Schoß fällt, drängte sich für die Diskussion der Form auf. Corkhill interessieren jedoch vornehmlich 'auktoriale' Aussagen zum Glück, die in der ideen- und problemgeschichtlichen Perspektive auswertbar sind. Damit bleibt indes eine wesentliche Komponente des Glücks notwendig unerörtert: die seiner Zufälligkeit, aus der ja geradezu das Beglückende des Glücks bestehen kann.

Im Ganzen ist das Buch trotz der verschiedentlich begegnenden Bezüge auf die heutige Verhaltenspsychologie und die an sie anschließende Ratgeberliteratur eher von einer gewissen Skepsis der Glücksverheißung gegenüber geprägt. Wie Schopenhauer seinen "Aphorismen zur Lebensweisheit" (1851), so setzt Corkhill seiner Einleitung eine Sentenz von Nicolas de Chamfort voran, welche diese Grundhaltung vorgibt: "Das Glück ist ein schwieriges Ding. In uns finden wir es nur sehr schwer und gar nicht außer uns." Diese Einsicht des französischen Moralisten reflektiert den Ton der Untersuchung, beziehungsweise den historischen Wandel des Glücksverständnisses am besten: Am Ende mögen die Strategien der Unglücksvermeidung noch der sicherste Umgang mit dem Glück sein. Diese Haltung, die im 19. Jahrhundert prägend wird, spürt Corkhill mit dieser Arbeit in ihren Vorformen der späten Aufklärung und der Romantik auf.

Titelbild

Alan Corkhill: Glückskonzeptionen im deutschen Roman von Wielands "Agathon" bis Gothes "Wahlverwandtschaften". Saabrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft.
Röhrig Universitätsverlag, St. Ingbert 2003.
252 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-10: 3861103400

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