Kalkulierte Hinrichtungen oder ein Unheil, das vom Himmel fällt?

In ihrem neuen Buch rekonstruiert Ines Geipel das Schulmassaker am Erfurter Gutenberg- Gymnasium und enthüllt seine gesteuerte Nachgeschichte

Von Jörg SaderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Sader

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Elsa hat über Handy von den Schüssen gehört, die in ihrer ehemaligen Schule fallen, und ist noch am selben Tag, es ist der 26. April 2002, von Berlin nach Erfurt gefahren. Tote im Gutenberg-Gymnasium? Unmöglich, denkt die Studentin. Noch kennt sie das entsetzliche Ausmaß der Tat nicht, erfährt jedoch bald: Täter ist der drei Jahre jüngere Robert Stein häuser, sie kennt ihn aus dem Wohnviertel, vom Spielen auf der Straße ...

Zur Erinnerung: Am späten Vormittag dieses Tages sterben im Erfurter Gutenberg-Gymnasium 17 Menschen: zwei Schüler, zwölf Lehrer, eine Sekretärin, ein Polizeibeamter, schließlich der Schütze, der sich mit dem letzten der insgesamt 71 Schüsse, die er abgibt, selbst richtet. Die Mordserie trifft die Stadt wie ein Keulenschlag, Entsetzen, endloses Fragen nach dem Warum: Amok eines Durchgeknallten, so dunkel und blind wie das Wort selbst, unerklärbar, ohne jegliches Motiv, einfach so?

Elsa hat da Zweifel, vor allem gegenüber der Politik, die auffällig schnell, als sei da etwas zu verbergen, die Tat des 19jährigen Ex-Gymnasiasten ein "vom Himmel gefallenes Unheil" nennt. Ihre Fragen bilden die "Sonden" des umsichtig recherchierten Faction-Buches, das im Namen der "so grauenvoll Getöteten" eine "rückhaltlose und verbindliche" Aufklärung des Falles fordert, die, so Ines Geipel unmissverständlich im Vorwort, nach wie vor ausstehe. Zum Beweis hat die Autorin über ein Jahr Gespräche mit Schülern, Lehrern und Hinterbliebenen geführt, Vernehmungsakten studiert, die lokale Presse ausgewertet, und ihre Erkenntnisse schließlich zu einem bestürzenden Puzzle aus persönlichem Versagen, bürokratischem Fehlverhalten, politischer Ignoranz und autoritärer Willkür zusammengesetzt, das nur einen Schluss zulässt: Steinhäusers Morde waren "kalkulierte Hinrichtungen." Er habe sich auf den "Todesgang durch seine Schule sehr bewußt vorbereitet. Um so etwas durch zustehen, ist eine regelrechte Kampfausbildung vonnöten." Insofern verkleinere der Begriff Amoklauf das Geschehen.

Bereits als 17-Jähriger wird der mittelmäßige, arrogant wirkende, häufig schwarz gekleidete Schüler Robert Steinhäuser Mitglied eines Schützenvereins: "Er bekam eine Waffe und die dazu gehörige Munition. Er verschoß sie, gab die Waffe wieder ab und ging. Er schoß sehr schnell." Den Loser fasziniert das Schießen, es vermag, die unerträgliche Schule wegzublenden, die ihn, anders als das Internet, hart fordert. Aber dienen die Baller- und Kriegsspiele wie "Counterstrike" oder "Return to Castle Wolfenstein", die er dort extensiv spielt, der späteren Tat tatsächlich als Modell?

Steinhäusers Flucht in die virtuelle Realität erscheint Ines Geipel typisch für die Jugend des Ostens nach der Wende. Sie liest sie als Protest, als stumme Kritik an der Generation der Eltern und Lehrer, die unter den Überwältigungsprozessen dieser Jahre mehr und mehr ihre Wurzeln verliert. Weder gelingt es ihr, die friedliche Revolution von 1989 als Erfolgsgeschichte zu verbuchen noch vermag sie, ihre von der Diktatur erzwungenen Überlebens strategien - das sich unauffällig Machen, das Stillegen jeglicher Er wartung - zugunsten der neuen Werte wie Markt, Effizienz und Produktivität aufzugeben. In dieser Situation "historisch beispielloser geistiger Desorientierung" wird das Internet zum "Transmitter zwischen Alter und Neuer Zeit", es kompensiert die Inkompetenz und Unglaubwürdigkeit der verstummten Elterngeneration mit eigenen Codes. Am Ende, schreibt Ines Geipel pointiert, legen die Jugendlichen "ihr 1968 im Internet ab." Doch bietet auch die Schule Anlass, in virtuelle Welten wegzutauchen. Der ungebrochenen Anpassungsmentalität der ostdeutschen Lehrer müssen die Schüler ebenso Paroli bieten wie dem neuen, mehrgliedrigen Schulsystem nach westdeutschem Vorbild, das ab 1989 in Thüringen die "höchst autoritär geführte DDR-Schule" ersetzt. Dass es jetzt um Leistung geht, um funktionale Intelligenz, um pures Faktenwissen (wogegen Schüler bereits Jahre vor dem Massaker erfolglos protestieren), das erfährt auch Robert Steinhäuser. Die Wiederholung der Klasse Elf bedeutet Aufschub, keine besseren Leistungen, jedoch die Perfektionierung des Schießtrainings bis zu jener fatalen Schlüsselszene am 4. Oktober 2001 in seinem Abiturjahr: Wegen Fehlzeiten und Fälschung eines Krankenattests wird Steinhäuser - juristisch unstatthaft: ohne Einberufung der Lehrerkonferenz - der Schule verwiesen und steht nun, nachdem er sich 1999 vergeblich um einen externen Realschulabschluß bemüht hatte, ohne jeglichen Abschluß da, ein sozialer Fall.

Eltern wie Freunden verbirgt Steinhäuser die Lage: er sucht erfolglos nach einer anderen Schule - und rüstet zugleich auf: Bargeldabhebungen in erheblicher Höhe an einem EC-Automaten am 4. Oktober 2001 (Tag des Rauswurfs), Erhalt der Waffenbesitz karte am 16. (Gespräch mit dem Schulamt); am 19. Erwerb der Pistole Glock 17, der späteren Tatwaffe, am 20. von 1.000 Schuss Munition, am 3o. der Pumpgun, am 7. 11. noch mal 300 Schuss. Die Rache-Gedanken konkretisieren sich, der Plan zum einem Super-Gau entsteht, "eine Art negative Religion", mutmaßt die Autorin: "Erlösung finden vom Loser-Dasein, zum Rächer werden!" Längst sind Mitschüler verängstigt - Man müsse, habe er geäußert, die Lehrer erschießen! - und orakeln: "Der Steini läuft bestimmt mal Amok an der Schule!" Noch am 24. soll die Schule anonym gewarnt worden sein. Hätte das Blutbad also verhindert werden können?

Während am 26. April 2001 der Bundestag in Berlin über ein neues Waffenrecht debattiert, finden im Gutenberg-Gymnasium schriftliche Abiturprüfungen statt. Um 10 Uhr 18 tritt Robert Steinhäuser, zum Ninja-Kämpfer verkleidet, seinen Feldzug an und wird, beherzt von einem, zeitweilig als Zweittäter verdächtigten Lehrer 20 Minuten später in ein Klassenzimmer gestoßen, zum letzten Opfer. Folgt man Ines Geipel, die das Massaker anhand der Polizeiberichte und Zeugenaussagen allerdings äußerst akribisch rekonstruiert - und entschieden dem verharmlosenden Befund des "Vorläufigen Abschlußberichts" des Innenministers widerspricht -, so hätten durch einen schnellen Notzugriff der Polizei (den die vage Theorie eines zweiten Täters blockierte) Menschenleben gerettet werden können. Sie sieht am Ursprung des überaus dilettantischen Einsatzes, den selbst das SEK kritisierte, vor allem Kompetenzgerangel, fehlende Kommunikation zwischen Polizei und Rettungskräften, keine deutlich gekennzeichnete Einsatzleitstelle, eine viel zu spät gebildete Rettungskette, in summa: einen verantwortungslosen Mangel an Professionalität.

So werden zwei schwerverletzte Schüler, die zwei Stunden überleben, nicht versorgt, sind die Schreie eines schwerverletzten Lehrers auf den Fluren bis 12.30 Uhr zu hören, werden 182 traumatisierte Schüler, die in Todesangst über ihre Handys um Hilfe bitten, nicht befreit, werden Tote nicht geborgen, Hinterbliebene nicht oder nur vage informiert. Trotz mehrerer Nachfragen an die Staatsanwaltschaft wissen viele bis heute nicht wirklich, sagt die Autorin in einem Interview, "wie der Nächste, der Liebste, das eigene Kind zu Tode kam". Stattdessen: Nachrichtensperren, Schweigepflicht für die Presse. Dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft schwerwiegende Mängel und Pannen aufweisen, hat bereits zu zahlreichen Klagen und Strafanzeigen geführt.

Elsa, Ines Geipels Studentin an der Berliner Schauspielschule "Hanns Eisler", hat wie einige ihrer Kommilitoninnen ihr Abitur am Erfurter "Gutenberg" gebaut. Über weite Strecken ist es ihr Blick, der durch das Buch führt, ihre Verbitterung. Sie hört die Worte des Oberbürgermeisters - "Erfurt ist bekannt geworden durch Gutenberg. Wir wollen zeigen, daß wir eine liebenswerte Stadt sind und nicht die eines Amokläufers" - und denkt an die Schülerinitiative "Schrei nach Veränderung." Sie konstituiert sich Wochen nach dem Massaker und zieht mit der alten Forderung nach Novellierung der Thüringer Schulgesetze vor die Staatskanzlei. Haushaltskürzungen als Antwort, Lehrerentlassungen, ein Konsens der Ablehnung, des Schweigens, der noch die erste offizielle Trauerfeier strukturiert. Während sich am 10. Mai 2002 die große Politik die Hand gibt, darf lediglich ein Schüler ans Mikrophon treten.

Wirken da am Ende alte DDR-Strukturen fort? fragt Elsa in einem Exkurs. Im nahe gelegenen KZ Buchenwald enthüllt ihr der Zufall ein in der DDR streng gehütetes Geheimnis: die kommunistische Lagerhierarchie kontrollierte den Krankenbau, 700 Rote Kapos mordeten im Auftrage der Partei für die SS: "Opfertausch und Kaderschonung." 1945 befreit, zogen die Mörder in kommunale Verwaltungen ein, machten Karrieren als Funktionäre, wurden zu Siegern der Geschichte und konnten doch als ihre Opfer gelten. Zum Beispiel dieser "Konstruktion der DDR um die Achse gedächtnispolitischer Amnesie" führt die Autorin den Häftling Helmut Thiemanns an, nach dem die Alliierten wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit fahndeten: als Rolf Markert war er bis 1981 Geheimdienstchef in Sachsen und starb, von den Gerichten auch nach der Wende unbehelligt, 1995.

Auch den Fall des Jenaer Euthanasie-Arztes Jussuf Ibrahim, der in der DDR als verdienter Arzt des Volkes galt, obwohl seine NS-Verbrechen bewiesen waren, bedenkt Elsa. Was haben er und Buchenwald und der politische Umgang mit Steinhäusers Massaker miteinander gemein? "Drei große Akte serieller Tötung", befindet sie, "und wie damit umgegangen wird. Bewusst gelenkte Nachgeschichte. Eins ist deutlich klarer geworden: diese drei Fälle beziehen ihren Zusammenhang aus der politischen Kultur des Landes."

Am Ende formulieren Elsa und die in Dresden geborene Autorin, die in Jena studierte, bevor sie in den Westen floh, eine politische Utopie. "Nähme die thüringische Politik ihren Auftrag an, würde sie ihrer Bevölkerung nach der Erfahrung zweier Diktaturen in der Ausformung eines neu zu definierenden Rückgrats weitsichtig zur Hand gehen. Besonders in einem Moment, da sie ein Ereignis zu bewältigen hat, das die Erfahrungsfelder sowohl der beiden Diktaturen als auch der Zeit nach 1989 fokussiert."

Kultur des öffentlichen Streits und Einforderung demokratischer Strukturen in den Neuen Ländern, Abbau der Ängste, die als Nachformen der Diktatur, als geistiger Opportunismus überleben, dafür tritt die Autorin ein. Wenn 20 Prozent der Bevölkerung Thüringens die Rückkehr zur Diktatur wünschen, dann muss etwas faul sein in unserem Staate.

Anders als die billigen Ostalgie-Spektakel aktueller DDR-Verharmlosung bietet Ines Geipels sehr lesbares Buch am Beispiel des Massakers von Erfurt tatsächlich Information. Die Autorin ist mit Texten über Inge Müller und andere DDR-Autorinnen hervorgetreten, hat ein Sachbuch zum Doping im DDR-Sport verfaßt, einen Roman sowie Lyrik. Keines ihrer Bücher, äußerte sie in einem Interview, habe sie so verändert wie dieses.

Titelbild

Ines Geipel: Für heute reichts. Amok in Erfurt.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
253 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-10: 3871344796

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