Zur Erinnerung an den 200. Todestag von Immanuel Kant

Zwei Dokumentenfunde

Von Werner StarkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Werner Stark

Am 12. Februar 1804 ist Immanuel Kant gegen 11.00 vormittags in seinem Haus in Königsberg (Preußen) gestorben. Ein sich über mehr als zwei, wenn nicht gar drei Jahre hinziehender Prozess des zunehmenden körperlichen und intellektuellen Verfalls fand sein natürliches Ende. Nur wenige Wochen trennten den am 22. April 1724 Geborenen von der Vollendung seines 80sten Lebensjahres. - Er selbst und seine Freunde, Wegfährten und die Universität, deren Bürger er seit seiner Immatrikulation am 24. September 1740 gewesen ist, hatten hinreichend Zeit, sich auf diese Zäsur vorzubereiten. - So gesehen kann es schon verwundern, dass mehr als zwei Wochen vergingen, ehe der Leichnam in einem feierlichen Akt auf der Pregelinsel bestattet worden ist. Die Grablegung fand in den Nachmittagsstunden des 28. Februar an der nördlichen Längsseite der Domkirche statt, die seit der Gründung der Universität (1544) auch als Universitätskirche fungierte. Eine kleine Gruppe von Studenten hatte die Initiative ergriffen, einen Leichenzug durch einige Straßen der Stadt mit einer abschließender Ehrung konzipiert und schließlich auch in weitgehend eigener Regie - mit Einwilligung der akademischen Behörden - durchgeführt.

Unterdessen fasste der Senat der Universität am 20. Februar den Beschluss, eine eigene akademische Gedenkfeier für das herannahende Datum des 80. Geburtstags des Verstorbenen anzusetzen. Da dieses Datum auf einen Sonntag fiel, wurde die Feier um einen Tag hinausgeschoben: auf Montag den 23. April. Die Gedächtnisrede hielt der professor poeseos, der Konsistorialrat und Theologe Samuel Gottlieb Wald (1762-1828). Zur Vorbereitung hat Wald schriftliche Fragen zirkulieren lassen, um von anderen Kollegen Hinweise und Informationen zu Einzelheiten der Biographie des Verstorbenen zu ermitteln. (Die Rede ist erst 1860 von Rudolf Reicke in den "Neuen Preußischen Provinzialblättern" in Königsberg, auch als Separatdruck, veröffentlicht worden.) Über diesen Auftrag hinaus gehen zwei je vierseitige Folio-Drucke, die Wald in Form von Einladungsprogrammen zu akademischen Festvorträgen in den nächsten Monaten zusammengestellt und mit den Untertiteln "Erster [Zweiter] Beitrag zur Biographie des Prof. Kant", je versehen mit dem Sigel der Königsberger Albertina hat drucken lassen.

Die Auflagenhöhe derartiger Programme dürfte sich kaum auf eine dreistellige Zahl belaufen haben. Entsprechend rar sind heute solche primär einer lokalen Tradition verpflichtete Publikationen. Der Erste der genannten Beiträge wird hier abgebildet:

Dokumente

Das Bild zeigt das einzige derzeit nachgewiesene Exemplar in der Akademie-Bibliothek in Gdansk (Biblioteka Gdanska Polskiej Akademii Nauk), der früheren Stadtbibliothek Danzig unter der Signatur: Fa 17011, 4to. Das Exemplar geht, wie an dem handschriftlichen Titelblatt-Eintrag zu erkennen, auf R[udolf] Reicke zurück, den Kant-Forscher, Bibliothekar und Bearbeiter der Abteilung II: "Briefwechsel" im Rahmen der Akademie-Ausgabe von "Kant's gesammelten Schriften" (Berlin 1900ff). Das Stück ist zusammengeheftet mit dem zum 9. Oktober 1804 erschienen "Zweiten Beitrag" und einem Exemplar des Magister-Diploms von Immanuel Kant aus dem Jahr 1755; ein faksimilierter Abdruck des Diploms zum Beschluss des Bandes XIII (1922) der Ausgabe.

Die Rückseite des Danziger Exemplars bietet eindeutige Indizien zur Aufklärung der Provenienz: über den rechteckigen zur Königsberger Stadtbibliothek gehörigen Akzessionsstempel: "Aus der Bibliothek / des Prof. Dr. Rudolf Reicke / 1906. Acc: - nr 506" [Stark 1985] findet sich derselbe runde Stempelabdruck der Danziger Bibliothek, den das hier reproduzierte Titelblatt des ersten Beitrags aufweist. Der handschriftliche Vermerk "Dbl" = Dublette, macht klar, dass das Exemplar nicht etwa, wie man denken möchte, als Folge des Zweiten Weltkrieges von Königsberg nach Danzig gewandert ist. Vielmehr wird es auf dem Wege des üblichen Dublettentausches bald nach der Königsberger Akzession diesen Weg genommen haben, wie ein handschriftlicher Vermerk auf der Titelseite oben belegt.

Die Danziger Akademie-Bibliothek verfügt bis heute wegen ihrer sehr weit zurückreichenden Geschichte und der durch glückliche Umstände und entschiedenes Engagement polnischer Bibliothekare geretteten Bestände über einen reichen Schatz an deutschsprachigen Quellen, gedruckten und handschriftlichen. Für manche Forschung zur frühen Neuzeit oder zum 18. Jahrhundert mag sich ein Besuch lohnen.

Literatur

Adickes, Erich (1896): German Kantian Bibliography, in: Philosophical Review (May 1893 - June 1896) [Reprint: Würzburg o. J. ca. 1970].

Böckel, Ernst Gottfried Adolph (1804): Die Todtenfeyer Kants (Königsberg: Göbbels & Unzer)

Günther, Otto (1905): Der Neubau der Danziger Stadtbibliothek, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen (Leipzig) Bd. 22, S. 171-182.

Kant, Immanuel (1900 ff.): Kant's gesammelte Schriften (Berlin) [Bde. I-IX = 1. Abtlg. 'Werke' (1902-1923) / Bde. X-XIII (XXIII) = 2. Abtlg. 'Briefwechsel' (1900-1922) / Bde. XIV-XXIII = 'Handschriftlicher Nachlaß' (1911-1955) / Bde. XXIV-XXIX = 'Vorlesungen' (1966 ff.)]

Kelch, Wilhelm Gottlieb (1804): Ueber den Schädel Kant's. Ein Beitrag zu Gall's Hirn- und Schädellehre (Königsberg: Nicolovius)

Lindemann-Stark, Anke / Stark, Werner (1995): Beobachtungen und Funde zu Königsberger Beständen des 18. Jahrhunderts, in: Nordost-Archiv (Lüneburg), NF Bd. 4,1, S. 63-100.

Malter, Rudolf / Kopper, Joachim (Hgg) (1974): Immanuel Kant zu ehren (Frankfurt/M.) [400 S.] [= stw 61].

Pelczar, Marian (1962): The Gdansk Library, in: The Review of the Polish Academy of Sciences (Warszawa) vol. vii, October-December 1962, No. 4 (28), S. 55-64.

Reicke, Rudolf (Hg) (1860): Kantiana. Beiträge zu Immanuel Kants Leben und Schriften, in: Neue Preußische Provinzialblätter, 3. Folge: Bd. 5, S. 97 ff. [Auch Separatdruck: Königsberg 1860, VI, 83 S.].

Stark, Werner (1985a): Kantiana in Thorn, in: Kant-Studien, Bd. 76, S. 328-335.

Wald, Samuel Gottlieb (1804): Gedächtnißrede auf Kant (23. April 1804); in: Reicke 1860 'Kantiana'.

Wald, Samuel Gottlieb (1804a): [Einladung] zur Geburtstagsfeier des Königs am 3ten August. Erster Beitrag zur Biographie des Prof. Kant (Königsberg) [4 S.]

Wald, Samuel Gottlieb (1804b): [Einladung] zu der am 9ten October 1804 im großen akademischen Hörsaale zu haltenden Gedächtniß-Rede auf den Kurfürstlichen Tribunalsrath Schimmelpfennig [...] Zweiter Beitrag zur Biographie des Prof. Kant (Königsberg) [4 nichtpag. Seiten, fol.] [weitere Exemplare: Staatsbibliothek München, Kantiana / Stadtbibiothek Worms.

Warda, Arthur (1924): Immanuel Kants letzte Ehrung. Aktenmäßige Darstellung (Königsberg) [38 S.]

Wasianski, Ehregott Andreas Christoph (1804): Immanuel Kant in seinen letzten Lebensjahren. Ein Beytrag zur Kenntniß seines Charakters und häuslichen Lebens aus dem täglichen Umgange mit ihm (Königsberg: Nicolovius)