Salz im Haus

Reiner Kunzes Nachdichtungen machen aus Originalen Originale

Von Dörte HartungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dörte Hartung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nachdichten und einander den eigenen Vers hinschenken - das ist der Internationalismus der Dichter", schreibt Reiner Kunze im Nachwort seines neuen Buches mit gesammelten Gedichten vor allem aus Tschechien, Serbien, Ungarn und der Slowakei. Der Schriftsteller versammelt in diesem Gedichtband eine Auswahl bedeutender Werke vieler Lyriker des osteuropäischen Raumes, die sich mit entsprechenden Themen auseinander setzen.

Dem Leser begegnen die traurigen Gedichte des Melancholikers Karel Toman, dessen lyrisches Ich im Stück "Herbst" dem "Zauber der abende" verfällt und wehmütig an wärmere Tage denkt: "Auch auf meinem feld knisterten ähren am golde der sonne, dem schweren, und der Mittag tanzte durchs feldmeer". Am Ende erscheint ihm die Welt nur noch leer.

Häufig sind Gedanken über Kriege und die Auseinandersetzung mit ihnen Gegenstand der dargestellten Welt, wie bei dem Stück "Alter Jüdischer Friedhof, Dezember 1957" des tschechischen Lyrikers Vlasta Dvorácková.

Milan Kundera, bei uns vor allem als Romancier und Verfasser von "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" bekannt, ist mit einigen Gedichten vertreten, die den Leser in eine wiederum andere Thematik entführen. In seinem Gedicht "Schlager vom Ledigsein" macht das lyrische Ich in einer Art Dialog deutlich, dass "Ledigsein" mehrere Bedeutungen haben kann:

Ledig sein heißt ledig sein,

fräulein, auch des kleides.

Frauen nur, die reizlos sind,

lügen mit dem kleide.

Sie, mein ledig schönes kind,

brauchen keine seide.

Warum nicht, mein lieber? Ich finde,

die kleider sind nur für die andern,

und das für die andern

verschwinde!

Zum spaß deiner augen und jeder

spiegelnden fläche

will ich brav ledig sein, ledig

bis auf die wäsche.

Und schließlich ist das lyrische Ich am Ende des Gedichtes allem ledig "bis auf das nichts".

Eine optisch-visuelle Spielart von Gedichten repräsentieren die Sehtexte des Schriftstellers und Politikers Václav Havel. In dieser graphischen Lyrik sei das "Druckbild Element der Metapher", so Kunze über diese moderne Form des Dichtens in seinem Nachwort.

Gedichte in tradierten und erprobten Reimformen wechseln sich ab mit eher unkonventioneller Lyrik, die teilweise sogar in Form von Prosa auftritt.

So hat der 71-jährige Autor Reiner Kunze, der 1977 aus der DDR ausgebürgert wurde und in den vergangenen Jahren zahlreiche bedeutende Literaturpreise erhielt, eine Vielzahl von verschiedenen Spielarten der Lyrik zusammengestellt und "nachgedichtet", was er in seinem recht ausführlichen Nachwort überzeugend rechtfertigt und als besondere Herausforderung an den Nachdichter stellt: "Unter 'Nachdichten' verstehe ich, ein Gedicht so zu übersetzen, daß es in der Sprache, in die es übersetzt wird, wie ein Original wirkt, und daß dieses dem fremdsprachlichen Original höchstmöglich gleicht, schreibt Kunze und schildert im Anschluss verschiedene Verfahrensweisen, ein Gedicht in eine andere Sprache zu bringen und gleichwohl dessen 'Seele' zu bewahren.

Reiner Kunzes Nachdichtungen verdeutlichen damit, dass der Reichtum und die Vielfalt der Gedichte aus dem Reichtum und der Qualität der Übersetzungen kommen müssen.

"Wo wir zu Hause das Salz haben" ist ein abwechslungsreicher Gedichtband, welcher sich hauptsächlich den Werken osteuropäischer Lyriker widmet, die den deutschen Lesern zu einem großen Teil noch unbekannt sind, es aber nicht länger bleiben sollten.

Titelbild

Rainer Kunze: Wo wir zu Hause das Salz haben. Nachdichtungen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2003.
371 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3100420233

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