Wider die Werbeflut

Sebastian Turner verteilt Rettungsringe

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sebastian Turner, Vorstandssprecher des Art Directors Club und Geschäftsführer von Scholz & Friends, kennt sich aus. Vor allem bei den Zahlen. Und die sind, was die Erfolge der Werbung anbelangt, niederschmetternd.

Während sich 1960 immerhin noch 40 Prozent der Zuschauer eines Werbeblocks an einen Spot erinnern konnten, sind es heute gerade einmal läppische acht Prozent. Wird eine Sendung für Werbung unterbrochen, schauen nur sieben Prozent hin, der Rest wendet seine Aufmerksamkeit anderen Dingen zu, flüchtet auf die Toilette oder zappt zum nächsten Sender. In der Printwerbung überfliegt der Durchschnittsleser die durchschnittliche Anzeige in weniger als zwei Sekunden. Mehr ist nicht drin.

Das Interesse an Werbung könnte also kaum geringer sein. Trotzdem steigt der Pegelstand der Werbeflut von Tag zu Tag. Bis zu 3.000 Werbeimpulse dröhnen auf jeden Bundesbürger Tag für Tag ein, 460.149 eingetragene Marken wetteifern um seine Gunst. Von 1990 bis zum Ende der neunziger Jahre hat sich die Anzahl der im Fernsehen beworbenen Marken fast verdreifacht, während sich die ausgestrahlten Spots von 300.000 auf 1,5 Millionen verfünffacht haben.

Jetzt beginnt ein Teufelskreis. Hoher Werbedruck erzeugt beim Konsumenten eine noch geringere Aufmerksamkeit, brüllende Monotonie produziert zwangsläufig Desinteresse. Die meisten empfinden Werbung als lästig und weichen ihr aus, 45 Prozent würden sie am liebsten gesetzlich einschränken lassen. Je nach Schätzung lässt sich bei 50 bis 75 Prozent aller Werbeanstrengungen keine Wirkung feststellen. Jahr für Jahr verpuffen so über 20 Milliarden Euro.

Für den Kampf gegen dieses Dilemma will Turner die Werbetreibenden rüsten. Zum Beispiel, indem er sie für die Verbraucherrolle sensibilisiert und sie mittels einer seitenlangen Fotostrecke den typischen Tagesablauf eines Konsumenten durchleiden lässt. Ob morgens im Bad, mittags im Supermarkt oder spät abends im Internet - überall und zu jeder Zeit stößt man auf Reklame. Bald flimmert es vor Augen. Die Lektion sitzt: Wer inmitten der konkurrierenden und um Beachtung buhlenden Werbebotschaften überhaupt noch wahrgenommen werden will, muss sich etwas Außergewöhnliches einfallen lassen.

Aber was? Turners Antwort ist nicht eben originell, vielleicht aber der einzige Ratschlag, den man auf dem auf Grund gelaufenen Schlachtschiff Werbung überhaupt noch geben kann. Er lautet: Es hilft nichts, mit dem schartig geschlagenen Schwert weiter auf den Konsumenten einzudreschen. Es hilft nichts, die Schallverstärker so weit aufzudrehen, bis das Fiepen der Rückkopplungseffekte die Sicherung durchhaut. Das tun alle anderen auch. Darum, lieber Werber: Entspanne dich. Mach einen neuen Anfang. Mit einer kreativen Idee. Und konzentriere dich dabei auf eine einzigartige, für die Verbraucher relevante Botschaft.

Turner zeigt, dass kreative Klasse und Verkaufserfolg keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Trotzdem sind positive Ergebnisse nicht garantiert. Denn nicht selten ist ein Markterfolg mit bemitleidenswerter Ideenlosigkeit erkauft. Dem steht auf der anderen Seite eine mit Kreativpreisen überhäufte Werbung gegenüber, die im Markt katastrophal scheitert. Man erinnere sich etwa an den Camel-Spot mit dem tolpatschigen Kamel, bei der sich der gesamte Kinosaal regelmäßig vor Lachen bog, die jedoch beim anschließenden Zigarettenkauf am Kiosk keine Wirkung zeigte. Schlussfolgerung: "Kreativität kann [...] den Erfolg von Werbung beflügeln, muss aber nicht."

Es folgt das eigentliche Kernstück von Turners Kompendium, bestehend aus zwölf, durch Anzeigen und Kampagnen illustrierte "Regeln zum Wegwerfen". Eine riesige Beispielsammlung, die locker um einige Werbe-Tipps drapiert wird, könnte man beim ersten Aufblättern vermuten. Den Anfang macht die Regel "Werden Sie Wegwerfer" und "Seien Sie einfach", gefolgt von "Beobachten Sie Menschen", "Zeigen Sie, was ohne Produkt passiert" und "Seien Sie aktuell" bis zu "Misstrauen Sie allen Regeln".

Doch der erste Eindruck entpuppt sich als Irrtum. Turner arbeitet am lebenden Objekt, die Beispiele zeigen fast durchweg originelle, witzige oder irritierende Werbung. Vor allem: sie sind treffend kommentiert. Die knappen Analysen sitzen punktgenau auf den Plakaten, Filmstills und Printanzeigen. Sie destillieren Kernaussage und Stoßrichtung deutlich heraus und legen dar, warum die Werbung jeweils "trifft" oder wo Gefahren lauern. Wird nämlich eine Emotionsschraube an der falschen Stelle etwas zu stark angezogen oder ist für den Konsumenten eine Kopfnuss nicht zu knacken, kann der Werbetraum schnell ausgeträumt sein.

Durch Turners Handreichungen erfährt man Stück für Stück, wie Werbung konstruiert ist und welcher Stilmittel sie sich bedient. Reklame zum Beispiel, die ihre Botschaft verrätselt, muss das Gleichgewicht von Über- und Unterforderung exakt ausloten. "Eine gute Kampagne", schreibt Turner, "ist wie ein Puzzle. Wenn alle Stücke richtig liegen, gibt es nichts mehr zu tun. Fehlen zu viele, ist es zu mühsam. Die genau richtige Dosis bedeutet: Das letzte Puzzlestück fehlt." Kreativität, heißt das, ist alles andere als blindwütige Ideenhehlerei. Sie ist eine Balancekunst und verlangt Fingerspitzengefühl.

Einziger Nachteil des Bandes sind die auffällig vielen Arbeiten für Mercedes Benz, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und das Land Baden-Württemberg. Das lässt Turners Zusammenstellung etwas unausgewogen erscheinen. Wie vieles andere in diesem Buch stammen die Beispiele aus der Agentur Scholz & Friends.

Titelbild

Sebastian Turner: Spring! Das Geheimnis erfolgreicher Werbung.
Verlag Hermann Schmidt, Mainz 2000.
400 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 387439543X

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