Voilà un homme, ce Gœthe!

Dagmar Giersbergs intertextuelle Flaubert-Lektüren "Je comprends les Werther" - Goethes Briefroman als emanzipatorischer Prätext

Von Jörg SaderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Sader

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Les Werther", die Werther, ein irritierender Plural! Schlichte Vervielfachung des empfindsamen Helden oder luzider Hinweis auf die Sicht- und Rezeptionsweisen, die vielfachen Perspektiven, die der unglückliche Protagonist, vor allem Goethes Text selbst nahelegt, gar provoziert? Folgt man der These Dagmar Giersbergs, so hat sich Gustave Flaubert in nahezu beispielloser Weise an Goethes Briefroman von 1774 (bzw. 1787) entzündet, gerieben, abgearbeitet. Der "Werther" - in Frankreich bereits vor 1800 euphorisch (mit fünf verschiedenen Übersetzungen in 17 Ausgaben) aufgenommen und inzwischen zu einem der Schlüsseltexte der französischen Romantik avanciert - ist dem Werk des faszinierten Goethe-Lesers (mit Ausnahme wohl der "Salammbô" und einiger Erzählungen) eine Art Spiel-Vorlage, ein Prätext, der zu vielgestaltigen, höchst unterschiedlichen Kommentaren herausfordert, die allerdings, obgleich im Briefwechsel hellsichtig erörtert, nicht in den Essay münden, sondern unmittelbar in die schriftstellerisch-ästhetische Produktion.

Dagmar Giersberg erörtert diesen Schreib-Prozess als eine die Kunst-Autonomisierung im 19. Jahrhundert unnachgiebig vorantreibende Auseinandersetzung mit und zugleich als fort schreitende Emanzipation vom prägenden Prätext und zieht für ihre äußerst fundierte Untersuchung die Erzählungen "Novembre" und "Les Mémoires d'un fou", beide Romanfassungen der "Education sentimentale" sowie den "Bovary"-Roman heran. Ihrer methodisch vor allem an Julia Kristeva und Michael Riffaterre orientierten intertextuellen Lektüre geht es dabei weder um Einflussgeschichte noch um (literaturwissenschaftliche) Wahrheit, nicht also um Rekonstruktion, sondern um die Präsentation von (ästhetischen) Möglichkeiten aus alleiniger Sicht des (anfänglichen) Goethe-Verteidigers und unbeugsamen Stilisten, der Goethe allerdings in Übersetzungen las. Die neuen Sichtweisen, die diese überzeugende Lektüre (unter umsichtiger Berücksichtigung der geradezu überbordenden Flaubert-Forschung) auf die Texte beider Autoren ermöglicht (im Sinne wechselseitiger Deutungsangebote), stehen für einen beträchtlichen Zugewinn an Erkenntnis: Flauberts "Werther"-Lektüren sind nach Giersberg als kontinuierliche Re-Lektüren, als Wiederaufnahmen des bereits Bekannten im Sinne eines bewussten Neulesens zu verstehen, die die ästhetischen Konzeptionen und Fundamente des Werks, an dem er aktuell schreibt, dann auch jeweils neu bestimmen. Die These, dass "die Kreation von etwas Neuem nur als Ablehnung der Tradition in der Anlehnung an diese möglich" sei, man etwas nur überwinden könne, "indem mal es noch einmal aufruft", verdankt die Autorin den Briefen Flauberts, wo die Begriffe Originalität und Epigonalität, vor allem das Verfahren der Abschrift ("copier" und "recopier") als unerbittliches Streben nach perfekter Form und Suche nach dem "mot juste" ausgiebig erörtert werden. Mit "Bouvard et Pécuchet", seinem letzten, unvollendet gebliebenen Roman, scheint Flaubert die Emanzipation vom Prätext geglückt: bekanntermaßen lesen die beiden Kopisten alles und jedes, sie lehnen freilich die deutsche Sprache ab und sparen vor allem eines aus, den "Werther".

Die für den deutschen Leser erstaunliche Wirkung des "Werther" in Frankreich, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unvermindert anhält, ist nahezu undenkbar ohne die produktive Mitwirkung der Autoren des Nachbarlandes. Als romantischer Text par excellence war er (und nicht die Bücher Novalis', Tiecks, Wackenroders oder Eichendorffs) Gesprächsstoff literarischer Zirkel (z. B. der Gebrüder Goncourt), übte mannigfachen Einfluss aus (etwa auf Mme. de Staël) und regte zu zahlreichen Nachahmungen, Bühnenbearbeitungen und Parodien an (u. a. bei Chateaubriand, Nodier, Senancour, Constant, Musset).

Der junge Flaubert erlebt diese "Werther"-Welle unmittelbar, er liest Goethe, bewundert ihn bereits 1839 in den Briefen, nachdem er ein Jahr zuvor, als 17jähriger, seine erste, zu Lebzeiten unveröffentlichte Erzählung "Les Mémoires d'un fou" verfasst hat - wie "Novembre" (1842) ein Text in der "Werther"-Tradition und zugleich ihr reflektierter Kommentar. Der Held, der sich von seiner identifikatorischen "Werther"-, "Hamlet"- und "Roméo"-Lektüre geistige Superiorität erwartet, wird vor allem durch die Selbstbestimmung als "fou", als Wahnsinniger, als Beschreibung des (Klopstock, Homer und Ossian lesenden) Werther lesbar: "Meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn." Der bereits im Titel bezeugte Willen zur Differenz nutzt Wahnsinn als Metapher von Einzigartigkeit und gesteigerter Subjektivität und sucht die Gesellschaft, die den Wahnsinn mit Ausschlussstrategien belegt, zu überwinden. Auch Werthers Integrationsversuche misslingen: drängt ihn zunächst der Herausgeber als Vertreter der Vernunft zurück, so ist es am Ende der Text selbst, der die Sprache des "übervollen Herzens" zum Schweigen bringt: "Kein Geistlicher hat ihn begleitet."

Gerät noch die Erzählung "Novembre", ihrer Struktur nach, zum vergnüglichen Spiel mit der Vorlage, so die erste Fassung der "Education sentimentale" vollends zu ihrer Parodie. Unübersehbar geradezu ist die Makroform des Briefromans in den radikal-monologischen Selbstaussagen eines Ich, dessen Schreibabbruch und Tod ein zweites ironisch kommentiert, mit genüsslichen Seitenhieben auf wuchernde Metaphorik und überkommenen Trivialstil. Demgegenüber präsentiert der spätere Text gleich zwei Briefe schreibende Werther-Figuren. Ihre schriftlich-"empfindsame" wie mündliche Kommunikation erweist sich freilich, daran lassen die vernichtenden Erzähler-Urteile keinen Zweifel, als äußerst konventionell, leer und inszeniert. Diese erste Romanfassung ist nicht nur, wie Dagmar Giersberg schreibt, als Distanzierung romantischer Muster und Werte und Ausdruck nachhaltiger Desillusionierung zu lesen (die allerdings das Weiterleben der denunzierten Helden ermöglicht), sondern auch und vor allem als Verabschiedung des klassischen Bildungsromans. Was im "Wilhelm Meister" noch gelang, die Beschreibung fortschreitender Reifung eines jungen Menschen durch Darstellung der Ursachen und Wirkungszusammenhänge, denen er unterliegt, misslingt hier absichtlich: "Faire son éducation sentimentale, c'est donc perdre ses illusions."

Gegen die kohärente Erzähldarstellung des "Werther" fällt auch der auffällige Fragmentarismus der zweiten "Education" deutlich ab. Frédéric ist als passiver Entfremdeter bloßer Zuschauer einer ansonsten unbegriffenen Welt. Die Gesamtheit der Ereignisse seines Lebens ergeben kein Ganzes, der Versager und Mitläufer kann, anders als Werther, auf Mitleid beim Leser nicht hoffen. Mit dem Anti-Helden steht ja nicht nur die Möglichkeit konsistenter Charakterkonstitution in Frage, sondern die Darstellung von Kohärenz und Kontinuität im Roman selbst. Flauberts vorgeführte Romanchronologie erweist sich als Schein: weder vermag sie eine Struktur, einen roten Faden, noch sinnvolle Bedeutungszusammenhänge herzustellen - "une machine à déshistoriser." Der "défaut de ligne droite" lässt als Erzählprinzip nur noch den Zufall zu, wogegen der "Werther" noch aus einer Schicksalskonstellation erzählt wird, worauf bereits die Vorrede hinweist. So hat der Leser nach Flauberts eigenen Worten am Ende der "Education" den Lese-Eindruck, den er bereits am Lektürebeginn hatte. Mit Frédéric verabschiedet Flaubert nicht nur den romantischen Held à la Werther, er lockt den Leser auch auf eine falsche Fährte: eine konsistente Darstellung der "Histoire d'un jeune homme" findet nicht statt.

Demgegenüber verbindet "Werther" und "Madame Bovary" eine radikal reduzierte Distanz zwischen Protagonist(in) und Leser - ein revolutionärer Schritt in ästhetischer Hinsicht, in moralischer jedoch Anstoß erregend. Bereits die Authentizität beanspruchenden Werther-Briefe bewirkten ja einen seltsamen Zusammenschluss von Held und Leser, der sich als alleiniger Adressat fühlen musste. Die Konzentration der Briefform kam einer Verabsolutierung der Werther-Perspektive, der romantisch übersteigerten Subjektivität des Helden gleich, die den Erwartungshorizont des Lesers durchbrechen und zur Gefahr werden konnte. Mit der Figur der Emma Bovary potenziert Flaubert nun, wie die Autorin schreibt, die konstante Überforderung des Lesepublikums, das den Identifikationsstrategien beider Texte mündig zu widerstehen und Distanz zu den Helden aufzubauen hätte, durch "produktive Konfusion". Die häufigen Perspektivenwechsel, die changierenden Meinungen und teilweise schockierenden, Sitte und Moral untergrabenden Äußerungen im "discours indirect libre", Flauberts bahnbrechendem Stilmittel, unterbanden, weil bewusst als Figurenrede nicht eindeutig ausgewiesen, die eindeutigen Zuschreibungen der Bewertungen, überschritten gewissermaßen systematisch den Erwartungshorizont der Leser (auch der Staatsanwaltschaft, die den Roman als Meinungsbild des auktorialen Erzählers las und Anklage erhob). Nach Giersberg zieht das Buch die Konsequenz aus Flauberts Kampf für die Befreiung des Autors aus seinem Werk. "L'artiste doit être dans son œuvre comme Dieu dans la création", schreibt Flaubert 1857 an Mlle. Le royer de Chantepie, "invisible et tout-puissant; qu'on le sente partout, mais qu'on ne le voie pas." Beide Texte, der in gewisser Weise erste autonome Text "Die Leiden des jungen Werther" wie die Aufsehen erregende "Madame Bovary", versteht die Autorin als Meilensteine einer fortschreitenden Tendenz zur Kunstautonomisierung. Im zweiten Falle wiederholte sich der Versuch der Indienstnahme der Literatur durch moralische Forderungen noch einmal, schlug allerdings fehl: Flaubert musste vor Gericht freigesprochen werden.

Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf eine Untersuchung, die die Entstehung der Flaubertschen Ästhetik im Rückgriff auf Überlegungen Goethes rekonstruiert und als bereichernde Ergänzung zu der äußerst instruktiven Dissertation Dagmar Giersberg gelesen werden kann (Christian Wolf: Ästhetische Objektivität. In: Poetica 34, Heft 1-2, 2002.)

Titelbild

Dagmar Giersberg: Je comprends les Werthers. Goethes Briefroman im Werk Flauberts.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2003.
275 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-10: 3826025709

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