Zufall ist Gotteslästerung

Gregor Hens' Roman "Matta verlässt seine Kinder"

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich habe abgesagt, für immer. Den Job, dieses Leben, alles." Karsten Matta ist um die vierzig, als er sich zur Zäsur entschließt, Frau und Kinder zurückzulassen und irgendwie "auszubrechen." Eine Lapalie hatte die Wirkung eines Zündfunkens im Heuhaufen. Der erfolgreiche "Berichterstatter im Dienst von Institutionen und global agierenden Konzernen" sitzt zu Beginn im pakistanischen Konsulat und wartet auf einen Stempel für seinen Reisepass. Nach Burundi, dem Kaukasus und dem Balkan soll sein nächster gut bezahlter Trip in die "Krisenregion" Pakistan führen. Matta erstellt Dossiers für investitionswillige Großkonzerne, die mit dem Wiederaufbau an Kriegs- oder Bürgerkriegsschauplätzen Geschäfte machen.

Unzählige Leichen und kaum vorstellbares menschliches Elend hat Matta auf seinen Expeditionen zu sehen bekommen. Diese, aus dem Gedächtnis nicht zu tilgenden Bilder prägen, verbittern und können auch zu einer emotionalen Abstumpfung und Skrupellosigkeit führen.

Ein Akt der Behördenwillkür - im Konsulat muss er stundenlang auf den Stempel warten - verwandelt Mattas Leben. Es ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Autor Gregor Hens, der vor zwei Jahren mit dem hoch gelobten Roman "Himmelssturz" debütierte, schickt seinen Protagonisten dann von Berlin nach Hamburg, in eine Flucht vor sich selbst, nur weg, ohne Ziel. Er trifft sich mit der schwedischen Kunsthistorikerin Malin, die er in einem Sommerurlaub kennen und lieben gelernt hat und um deren Existenz seine Frau Rebecca und seine beiden Söhne Friedrich und Christian wissen. Mattas Familie mag sogar die aufgeschlossene Skandinavierin. Auch Rebecca vergnügt sich hin und wieder anderweitig, alles scheint einigermaßen arrangiert zu sein. Kompromisse bestimmten die Beziehung, selbst bei der Auswahl der Kindernamen. Christian und Friedrich steht in den Papieren, Chris und Malte (Rebecca mochte Rilke) wurden sie indes genannt.

Mehr als die Hälfte dieses Romans liest sich wie eine leidlich spannende Beziehungsgeschichte mit midlife-crisis-touch. Gut situierter Vierziger, der seine Kinder abgöttisch liebt und beruflich einigermaßen erfolgreich ist, bricht plötzlich aus. Kein neues und auch kein originelles Motiv, und so wartet man geradezu händeringend in Gregor Hens' Roman auf das Unvorhergesehene, auf eine Art Eruption.

Der 39-jährige, in Ohio als Germanist lehrende Autor, der seine Habilitation über Thomas Bernhard schrieb, hat in diesem Roman tatsächlich einen raffinierten Spannungsbogen aufgebaut, den er in ein offenes Ende mit vielen ungelösten Fragen münden lässt. Nach einer eher behäbigen Warmlaufphase wechselt Hens im letzten Drittel der Handlung das Tempo. Die Beziehungsgeschichte erhält Thrillermomente, und das Sprach-Jogging verwandelt sich in ein atemloses, verbales Sprinten. Wieder ist es ein Zufall (ähnlich der Begebenheit im Konsulat), der die Geschichte umschlagen lässt. Malin und Matta geraten in eine ausgelassene, dörfliche Hochzeitsfeier. Plötzlich steht die Dorfschänke in Flammen, und ein junges Mädchen findet den Tod.

War der stark alkoholisierte Matta der Brandstifter? Hat er gar vorsätzlich gehandelt? Wollte der einstige Kriegsbeobachter selbst einmal Objekt der Berichterstattung werden? Nach der Flucht "vom Tatort" entsteht ein nebulöses Gemisch aus alkoholbedingten Bewusstseinstrübungen, Wahnvorstellungen und vagen Andeutungen. Malin und Matta streiten sich, es kommt zu einem beklemmend beschriebenen Verfolgungslauf in einem stockdunklen Wald, am Ende wird ein lebensgefährlich verletzter Mann aus einem Autowrack heraus geschnitten und neben der Unfallstelle ein Damenschuh gefunden. "Ein Zusammenhang des Fundes mit dem Unfallgeschehen konnte jedoch nicht hergestellt werden", heißt es im Polizeibericht. Also Zufall? Wie die vermeintliche Marginalie im Konsulat und wie der Brand bei der Hochzeit? Wie schrieb schon Lessing in "Emilia Galotti": "Das Wort Zufall ist Gotteslästerung. Nichts unter der Sonne ist Zufall; - am wenigsten das, wovon die Absicht so klar in den Augen leuchtet."

Titelbild

Gregor Hens: Matta verlässt seine Kinder. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
144 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3100325818

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