Auf der Suche nach den Gattungsregeln

Christine Ujma über Irmgard Scheitlers Reisebeschreibungen deutscher Frauen

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irmgard Scheitler hat ein verdienstvolles Buch geschrieben, eine Erkundung des weiblichen Reiseberichts zwischen 1780 und 1850. Ihre Studie "Gattung und Geschlecht" ist eine literaturwissenschaftliche Untersuchung und eine Entdeckungsreise zu verschollenen und vergessenen Werken der deutschen Literaturgeschichte, die eine erstaunlich große Anzahl deutschsprachiger Reiseschriftstellerinnen zutage fördert. Ein wenig ärgerlich ist, daß Scheitler all diese unter der Überschrift "Reisebeschreibungen deutscher Frauen" behandelt. Dies erscheint nicht nur deshalb befremdlich, weil Ida Pfeiffer, die bekannteste Entdeckungsreisende der Zeit, mit ihrer "Reise einer Wienerin in das Heilige Land" oder "Frauenfahrt um die Welt, Reise von Wien nach Brasilien, Chile etc." Österreicherin war und diesen Umstand sogar in den Titeln ihrer Reiseberichte annonciert, sondern auch deshalb, weil die Bewohnerinnen des Habsburger Reiches in einem Vielvölkerstaat lebten, der fast ein Drittel Europas umfasste. Möglicherweise hatten sie deshalb ein anderes Verhältnis zur Fremde und zum Reisen als die Deutschen.

Die Tatsache, daß die männliche Germanistik Reisebeschreibungen von Frauen bisher beharrlich ignorierte, könnte eine hübsche Werbung für "women's studies" sein, doch verwahrt sich Scheitler gleich eingangs dagegen, dieser Richtung zugerechnet zu werden. Auch auf anderem Gebiet setzt sie sich energisch von den Kolleginnen ab. Während sich die Frauenreiseforschung bisher auf Reisebriefe, Tagebücher und Reisebeschreibungen von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen stützte, beschränkt sich Scheitler auf konventionelle, das heißt für die Publikation verfaßte Reisebeschreibungen. Das mag philologisch ehrenwert sein, macht aber inhaltlich nicht unbedingt Sinn, denn so faszinierende Reise-Impressionen, wie sie sich in den Briefen von Rahel Varnhagen, Dorothea Schlegel oder Fanny Mendelssohn-Hensels finden, fallen dadurch aus der Untersuchung heraus. Das Argument, daß Reisebriefe eher persönlicher Natur seien und sich nicht unbedingt an ein Publikum wenden würden, trifft nur beschränkt zu, denn Frauenbriefe aus der Ferne wurden meist halböffentlich, d.h. im Freundes- oder Familienkreis rezipiert. Scheitler hält dabei die selbstgesetzte Beschränkung auch nur teilweise durch, denn der eine oder andere Band posthum publizierter Reisebriefe findet sich auch in ihrer Untersuchung.

Neben der Entdeckerinnenleistung Scheitlers, die in der Bibliographie und im bio-bibliographischen Anhang ihren Niederschlag findet, gehört das sozialgeschichtliche Kapitel "Die äußeren Umstände der Reise" zu den interessantesten des Buches. Zusätzlich zu einer Fülle sachlicher Informationen zum Themengebiet "Reisende Frauen" räumt die Autorin auch mit so manchem Vorurteil auf. Eines davon ist die auch in der Forschung immer noch verbreitete Ansicht, daß weibliches Reisen im 19. Jahrhundert eine Aktivität war, die absoluten Ausnahmecharakter hatte. Das sozialgeschichtliche Bild, das Scheitler entwirft, zeigt ferner, daß Frauen aller Altersgruppen reisten und daß die Formen ihres Reisens in ihrer Vielfalt sich kaum von denen der Männer unterschieden; Selbst der Spaziergänger Seume hatte weibliche Kollegen. Scheitler macht auch deutlich, daß die männlichen Vorbehalte gegen weibliches Reisen nicht sonderlich abschreckend wirkten. Mit den herrschenden Moralvorstellungen hatten viele Reiseschriftstellerinnen sowieso gebrochen, denn unter ihnen findet sich eine beachtliche Anzahl von Frauen, die von ihren Ehemännern getrennt lebten und mit Partner bzw. Liebhaber reisten; außer im moralinsauren England ergaben sich dabei kaum Probleme.

Im sozialhistorischen Kapitel stört einzig Scheitlers Postulat, daß Frauen nicht aus Berufsgründen reisten. Zwar reisten sie nicht als Wissenschaftlerinnen - wenn sich auch hier die eine oder andere Privatgelehrte finden ließe -, aber nicht wenige der behandelten Autorinnen waren Berufsschriftstellerinnen, und die Absatzmöglichkeiten für Reisebeschreibungen von Frauen waren, wie Scheitler im Kapitel über den literarischen Markt selbst ausführt, sehr gut.

Scheitler hätte es besser dabei belassen, die Entstehungs- und Absatzbedingungen der Reisebeschreibungen von Frauen zu untersuchen, denn ihr Versuch, diese gattungs- und textkritisch zu behandeln, ist eher ärgerlich als produktiv. Es finden sich oft genug unzulässige Generalisierungen, die sie selbst wieder einschränken muß. Insgesamt erscheinen die Frauen in ihren Reisebeschreibungen gegenüber den Männerthemen "Politik" und "Kunstgeschichte" sehr zurückhaltend, schildern dafür aber die Lebenswelt der Frauen und das Alltagsleben der bereisten Länder intensiv. Doch sind es oft gerade die bedeutenderen Autorinnen wie zum Beispiel Fanny Lewald oder Johanna Schopenhauer, auf die die Versuche dieser Einordnung nicht zutreffen; so schreibt die Schopenhauer ausführlich über Kunst und Lewald ist eine eminent politische Schriftstellerin. Die Frage des literarischen Wertes wird nicht thematisiert.

Gerade angesichts der Tatsache, daß Reiseberichte von Frauen noch weitgehend unerforscht sind, erstaunt Scheitlers Neigung, ziemlich endgültig klingende Gattungsbestimmungen vorzunehmen, zumal ihr manchmal sachliche Irrtümer unterlaufen, die auf mangelnde Textkenntnis schließen lassen. Statt problematischer vollmundiger Gattungspostulate, die sich dann doch nicht halten lassen, wäre es sinnvoller gewesen, ab und zu ein Fragezeichen stehen zu lassen und Aufgaben für weitere Forschungen zu benennen. Statt den Lebensweg der einen oder anderen Autorin in einem Nebensatz abzukanzeln, wäre es produktiver gewesen, die Widersprüche und Ambivalenzen, in denen die reisenden und schreibenden Autorinnen nun einmal standen, erst einmal zu benennen und dann - wenn's denn unbedingt sein muß - zu beurteilen.

Scheitler hat mit ihrer Erkundung der weiblichen Reiseberichte eine Menge Neuland entdeckt. Daß dieses sich den Versuchen der einfachen Kartierung und Einordnung erst einmal widersetzt, ist ein eher positives Zeichen. Es macht deutlich, daß weibliches Schreiben über die Fremde und das Reisen viel zu vielfältig ist, als daß es sich in einer Untersuchung abhandeln ließe, und daß die Frage nach dem Zusammenhang zwischen literarischer Gattung und Geschlecht vorerst unbeantwortet bleiben muß.

Titelbild

Irmgard Scheitler: Gattung und Geschlecht.
Verlag?, Tübingen 1999.
320 Seiten, 49,10 EUR.
ISBN-10: 3484350679

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