Die Geschichte kennt keine Sieger

Leif Allendorf arbeitet in seinem Debüt am Mythos

Von Steffen MartusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Martus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Leif Allendorfs Debüt "Sieger" handelt von der Dialektik der Macht und von der Absurdität des Krieges. Es ist ein mutiges und überraschendes Buch, das sich im Medium der Poesie über unsere Gegenwart klar zu werden versucht: Zehn Jahre nach der Einnahme Trojas kehrt Lykos, einstmals Soldat der griechischen Armee, an den Ort zurück, an dem die Sieger sich "zu Tode gesiegt" haben - Troja soll nun zum Bollwerk gegen den Osten ausgebaut werden, die Heimatwirtschaft leidet unter der veränderten Kräfteaufteilung, neue Konflikte zeichnen sich an den Rändern des Reichs ab, das unterlegene Volk will die Gewinner nicht als Befreier anerkennen. Lykos ist ein Grenzgänger. Er gehört weder zu den Griechen, noch zu den Trojanern. Als Soldat hat er dem Gegner den Sieg gewünscht, als Vertreter der ungelittenen Kriegsgewinner wird er in Troja empfangen. Er beherrscht die "kleinen Andeutungen und den verschwörerischen Blick" nicht, "mit dem die Einheimischen sich untereinander von den Siegern distanzieren", und ihm fehlt der Stolz des vermeintlich Überlegenen.

Das allgemeine Klima des Misstrauens, eines scheeläugigen Argwohns überwindet er im Gespräch mit der Trojanerin Laodike. Eine Nacht lang vertrauen sich die beiden ihre Sicht der Dinge an, sich immer korrigierend, um keine "Siegergeschichte" zu erzählen. Auf beiden Seiten herrscht der Wahnsinn der Vernunft. Die Parteien gehen meist vorsichtig miteinander auf dem Schlachtfeld um, weil andernfalls zu große Verluste ein baldiges Ende der Kampfhandlungen bedeuten würden. Sie schneiden sich nicht die Versorgungswege ab, aus Angst, das Opfer derselben Strategie zu werden. Die Soldaten auf beiden Seiten schlagen eher die Zeit als den Gegner tot und stabilisieren so die Machtverhältnisse. Aus immer neuen Details setzt sich allmählich vor allem ein Bild Trojas zusammen, dass uns wohlbekannt vorkommt, das Bild eines Landes, in dem "nicht alles schlecht war", eines Landes, in dem eine korrupte Machtclique ihre realitätsvergessene Politik hinter absurder Propaganda versteckt; eines Landes, in dem sich zumindest für eine Nacht der Befreiung neue Möglichkeiten erträumen ließen.

Allendorfs Arbeit am Mythos setzt in mancher Hinsicht Christa Wolfs "Kassandra" fort. Die Hauptrolle von Kassandra übernimmt Laodike. Sie vertritt die Rolle derjenigen, die immer verlieren, egal wer gewinnt. Aber nicht nur die kritisch-utopische Dimension des "Kassandra"-Romans, auch dessen hoher Ton klingt bei Allendorf wieder an. Dass die gewollt archaische Stillage ein Stil-Risiko darstellt, ist klar; dass es hier um eine Gratwanderung geht, die sicher nicht immer gelingt, sollte nicht verwundern. Aber entscheidend ist, dass die Erzählung dieses Risiko eingeht, dass sie eine eigene poetische Sprache sucht und sich einen literarischen Raum erfindet, in dem es keine Sieger und keine Unterlegenen gibt. Auf die abwehrende Geste, sich mit den "alten Geschichten" wieder und wieder zu befassen, reagiert Lykos mit dem entsprechenden Erzählprogramm: "Diese Geschichten sind nicht alt... Bevor sie sterben, bekommen sie Kinder, missgestalteter als sie selber, und Enkel, die noch grauenhafter sind". Gegen dieses übermächtige Stimmengewirr will er seine "kleine Wahrheit" behaupten.

Wo Christa Wolf im Troja-Mythos ihre Gegenwart im Lichte des atomaren Wettrüstens und einer allgemeinen Entgleisung politischer Gewalt gespiegelt hatte, findet Allendorf auf eine frappierend konkrete Weise die jüngere deutsche Geschichte an der Mittelmeerküste wieder: Troja verbannt Systemkritiker und schickt sie zu den Griechen, eine Fluchtwelle wird von Bogenschützen auf der Stadtmauer gestoppt, ein missverständlich formulierter Befehl führt zur Übergabe der Stadt an die Besatzer: "Um den Aufruhr des Volkes zu beruhigen, ordnete Antenor als rasch gewählter Nachfolger des Königs [...] an, die Tore zu öffnen. Nur versäumte der neue Herrscher zu sagen, welche Tore er meinte". Was der Widerstand im eigenen Lager über Jahre hinweg nicht bewirken konnte, erreicht ein Missverständnis. Im Anfang steckt der Makel, der auf die fortdauernde Korruption verweist.

Am Ende nimmt die Erzählung noch einmal Anlauf, um ganz nach oben zu kommen. Lykos entwirft seine Vision vom guten Leben, von einem Zusammenleben ohne Herrscher und Untertanen. Der Traum des "kleinen Griechen" wird ein letztes Mal von Laodike zurechtgestutzt: "Und während du noch mit deinem Steuermann streitest, ob der Bug des Schiffes die nächsten Tage nach Norden, Westen oder Süden weisen soll, setze ich mich auf eine Truhe an Deck, stelle meinen Beutel neben mir ab, betrachte die smaragdgrünen und saphirblauen Wellen, die über die Trümmer des Kriegshafens rollen, und der Seewind wird mir durch die Haare fahren". Leif Allendorf hat in seiner ersten Erzählung viel gewagt. Dass der kleine Avinus-Verlag mit ihm seine Autoren-Reihe eröffnet, ist ein Glücksfall.

Titelbild

Leif Allendorf: Sieger.
Avinus Verlag, Berlin 2003.
110 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3930064138

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