Medienchronik und Medientheorie

Ein Desiderat aus dem Fink Verlag

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Medientheorie ist kein Herzstück einer irgendwo universitär und irgendwie institutionell beheimateten Wissenschaft mit relativ fester und konkreter Lehr- und Forschungspraxis. Medientheorie ist die fortgesetzte Suche nach einem Medienbegriff und Symptom dafür, daß es keine Medienwissenschaft in diesem Sinne gibt.

Ein Großteil der kulturwissenschaftlichen Debatte kreist um den Medienbegriff. Es gilt selbst bei Skeptikern als ausgemacht, daß Kulturwissenschaft heutzutage nicht mehr darum herumkommt, auch die mediale Vermittlung unserer Kultur in den Blick zu nehmen. Das Firmenschild ist schon fertig: Medienkulturwissenschaft. Aber die Firma arbeitet noch nicht.

Dennoch ist Medientheorie eine blühende Landschaft. Die Spannbreite reicht von modischen Accessoires, die veraltete Ansätze modern erscheinen lassen sollen, bis hin zu großen Unternehmungen, die sich um einen grundlegenden Medienbegriff, um einen Medienbegriff als Begründungsebene bemühen und gleichzeitig eine veränderte Geschichtsschreibung auf der Basis von Mediengeschichte intendieren. Ein solches Unternehmen ist beispielsweise mit dem Namen Friedrich A. Kittler verbunden.

Nahezu alle methodischen Verfahren, die sich noch vor Jahren zum Reigen des Methodenpluralismus in der Literaturwissenschaft zusammengefunden haben, bemühen sich mittlerweile um eine medientheoretische Erweiterung: Dekonstruktion, Diskursanalyse (Benjamin, Brecht, Adorno), Systemtheorie, selbst Hermeneutik; und materialistische Ansätze haben sich schon früh um Medien gekümmert.

Was kann nicht alles Medium sein: das Fernsehen, die Fernsehsendung, die Institution des Fernsehens, die laufende Bild-Ton-Kombination; oder das Buch, der Text, die Sprache, die Schrift, die Literatur, der Literaturbetrieb; oder überhaupt die verschiedensten Instanzen: die Apparatur, die Technik, die Institution, das System; oder etwas abgehobener: der Körper, die Gesellschaft, das Bewußtsein; und noch etwas abstrakter: der Sinn, die Letztelemente, das Dasein.

Greifen wir zur Großen Medienchronik: Fast 1100 Seiten dick, über ein Kilo schwer, ein beeindruckendes Buch. Angesichts der skizzierten Situation wird deut lich, was die vier Autoren unter der Leitung von Hans H. Hiebel als "fundamentales Desiderat" bezeichnen, das die "Große Medienchronik" im Rahmen eines fortgesetzten Projekts "Literatur und Medien" einlösen soll. Die Große Medienchronik ist der letzte Meilenstein einer langen Entwicklung: Aus einer kleinen Tabelle zur Medienentwicklung ist die "Kleine Medienchronik" des Autorenteams hervorgegangen, die nun zur Großen Medienchronik ausgeweitet wurde. 1998 haben die Autoren einen ausführlichen Kommentar zu diesem Projekt prolegomenatisch vorgelegt: "Die Medien". Da die Medienchronik in der Tat zum überwiegenden Teil aus rein chronologisch und tabellarisch aufgelisteten Daten zur Mediengeschichte besteht, liefert der Kommentar den konzeptionellen Rahmen, der diesen Daten die historisch übergreifenden Leitlinien nachliefert. In der Großen Medienchronik sind den einzelnen Tabellen lediglich kurz zusammengefaßte Präambeln vorangestellt.

Die grundsätzliche Vorentscheidung, die die Autoren treffen und die heuzutage nicht mehr selbstverständlich ist, führt den Medienbegriff auf seine technische Komponente zurück. Dabei wird zunächst von einem "inneren Zusammenhang von Medium und medientechnologischem Kontext" ausgegangen und auf dieser Grundlage eine Logik der Medien entworfen, die drei Grundfunktionen vorsieht: Speicherung, Übertragung, Bearbeitung. Sie werden zunächst auf Information bezogen und dann auf sechs Aspekte erweitert: 1. Aufnahme, 2. Speicherung, 3. Übertragung, 4. Vervielfältigung/Reproduktion, 5. Wiedergabe, 6. Bearbeitung: "Unter Medien werden in unserem Zusammenhang materiell-mechanische oder energetische [...] Träger und Übermittler von Daten bzw. Informationseinheiten und mechanische sowie elektronische Mittel der Datenverarbeitung verstanden [...]. Unter "Informationen werden [...] verbale, primär-digitale (sprachgebundene bzw. zeichengebundene, d.h. encodierte) sowie nonverbale analoge (akustische und optische) Daten verstanden."

Das mag einfach klingen, wenn man auf die komplexen Versuche blickt, Medien abstrakt und Information formal, systematisch, struktural oder sogar mathematisch / algorithmisch zu definieren. Umgekehrt gilt es zu bedenken, daß dieser Medienbegriff eine gewisse Nähe zu einem intuitiven und das heißt auch technischen Medienbegriff wahren muß, um somit die Möglichkeit einer historisch-chronologischen Rekonstruierbarkeit sicherzustellen.

Es gibt eine Reihe von Systematisierungsvorschlägen, um jenen Phänomenbereich, der mit den Begriffen Medium oder Medien belegt wird, auszudifferenzieren. Ferner eine Reihe von Begrifflichkeiten, um zumindest verschiedene kategoriale Ebenen der Medienphänomene zu unterscheiden. Die Autoren entwickeln ihr eigenes System, indem sie zwischen analogen und digitalen Daten unterscheiden. Als analog gilt daher alles, was keiner Codierung unterworfen wird; Digitalität bedeutet demnach soviel wie Encodierung. Damit fallen die Autoren hinter den Reflexionsstand konstruktivistischer, kognitions- und allgemeiner zeichentheoretischer Forschung zurück, die eine unhintergehbare Codierung (schon in der Wahrnehmung) und Semiotisierung annehmen. Man muß auch hier in Rechnung stellen, daß es nur darum geht, eine Systematisierung zuwege zu bringen. Digitalisierung ist ein Mehrstufenmodell: Eine sekundäre Codierung liegt vor, wenn bereits codiertes Material (zum Beispiel Sprache) nochmals codiert wird (zum Beispiel im Binärcode des Computers).

Die Mediensystematik ergibt sich aus der Kombination verschiedener Bestim mungsfaktoren: 1. analog versus digital, 2. akustisch versus optisch (oder eine Mischform) und schließlich 3. Aspekt. Die Vielzahl vom Kombinationsmöglichkeiten wird wiederum reduziert, indem die Autoren - "aus rein pragmatischen bzw. heuristischen Gründen" - fünf Paradigmen eruieren, die als zusammenhängende Medienbereiche aufgefaßt werden können und jeweils ganz unterschiedliche Komponenten (Form, Rezeptionskanal, Medienaspekt) als dominant setzen: 1. Schrift/Druck/Post, 2. Optische Medien, 3. Akustische Medien (mit den entsprechenden Abgrenzungsproblemen), 4. Übertragungsmedien und 5. Computer.

Die Chronik zur Schrift beispielsweise beginnt circa 33.000 vor Christus und endet 240 Seiten später im Oktober 1998. Die Frage, ob eine solche Chronologie hilfreich ist und tatsächlich das benannte Desiderat erfüllt, läßt sich sicherlich nicht eindeutig negativ oder positiv beantworten. Abgesehen von den genannten Vorentscheidungen, die in die Chronik einfließen, stellt sie einerseits eine Material- und Datensammlung dar, deren Zusammenstellung allein eine beeindruckende Leistung dokumentiert, erweckt aber andererseits den Eindruck einer kontinuierlichen Entwicklung hin zu immer neueren und komplexeren Medienformen. Das ist insofern problematisch, als bereits bestehende Mediengeschichten (F. A. Kittler) darauf aufmerksam gemacht haben, wie entscheidend technikgeschichtliche Umbruchsphasen gewesen sind. (Was die Autoren übrigens selbst unterstreichen.)

Darüber hinaus soll auch "das ultimative Ziel" nicht aus den Augen verloren werden, auf das das Gesamtprojekt zusteuert, in dem die Große Medienchronik nur eine, wenn auch gewichtige Station ist: eine "Archäologie der 'Littera-tur'", die eine Antwort gibt auf die "Frage nach dem Einfluß mediengeschichtlicher Neuerungen auf die Formen der Literatur".

Der Beitrag der Großen Medienchronik ist eher indirekter Natur: Indem sie nämlich die 'harten Fakten' der Medien-Technik-Geschichte in einer möglichst umfassenden und tendentiell vollständigen Chronik offenlegt, schafft sie einen Rahmen, auf den sich zukünftige Mediengeschichten, aber auch Medientheorien auszurichten haben und an dem sich vorliegende Mediengeschichten messen lassen müssen. Denn viele Mediengeschichten schreiben Geschichte neu, indem sie mediengeschichtliche Ereignisse als Strukturierungspunkte wählen. Dabei erscheint dann Mediengeschichte als Produkt der Geschichtsschreibung. Die Große Medienchronik liefert keine objektive Mediengeschichte, sie stellt aber das - weitestgehend geglückte - Unternehmen dar, mit ihrer Datensammlung Orientierung und Korrektiv für Mediengeschichten zu liefern. Und in diesem pragmatischen Sinne haben die Autoren recht: Ihr Buch erfüllt ein Desiderat.

Titelbild

Hans H. Hiebel / Heinz Hiebler / Karl Kogler / Herwig Wallitsch: Große Medienchronik.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
1095 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3770533321

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