So will ich es doch nicht haben

Norbert Niemanns Lehrer-Roman "Schule der Gewalt"

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das vierte Album der Hamburger Band "Tocotronic", 1997 erschienen, nennt sich "Es ist egal, aber". Auf dem Cover sieht man in einer unscharfen Nahaufnahme drei Enten auf einer Wiese, die Platte bietet 18 Tracks mit Songtiteln wie "Ich bin viel zu lange mit Euch mitgegangen", "Für immer Dein Feind" oder "Alles was ich will, ist nichts mit Euch zu tun haben". Eine Zeit lang konnte man im Feuilleton der "F. A. Z." regelmäßig Artikel lesen, die mit Tocotronic-Songtiteln als Überschriften versehen waren. Der Band, so liest man auf der Homepage, war das eher unheimlich. Die Band, die ihrer Klientel bereits mit dem Debutalbum ein paar Lebensjahre voraus war, hadert auch ein wenig mit ihrem Image als alternative Oberstufenlieblingsband.

Ein Lieblingslehrer der Gymnasiasten ist in Norbert Niemanns Roman "Schule der Gewalt" der achtunddreißigjährige Frank Beck, Lehrer für Deutsch und Geschichte, nach eigener Aussage die "lächerlichste Sorte".

Beck steckt in einer Lebenskrise. Seit der Trennung von seiner Frau Petra samt Tochter Luzie haust er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung, soziale Kontakte: Fehlanzeige. Er verdammt seinen Beruf, wird im Kollegium zwar als Außenseiter geduldet, doch er selbst leidet unter den Kollegen und dem dumpfen, monotonen Schulalltag. Seine Energie steckt er in das unendliche, das sich selbst ständig reflektierende Nachgrübeln über seine Lieblingsklasse, einer elften, in der er Geschichte unterrichtet. Was geht in ihren Köpfen vor? Wie ticken seine siebzehnjährigen Schüler? Die manische Suche nach Antworten darauf wird für den Lehrer Beck, der immerhin zwanzig Jahre älter als seine Untersuchungsobjekte ist, zur geistigen Irrfahrt, die sich in einem unklar bleibenden Buchprojekt manifestiert. Beck - der Leser erfährt nichts genaues; er muss sich seinen eigenen Reim darauf machen - arbeitet nachts an einem Text, in dem es um Kindersoldaten, Kindesmissbrauch, Amokläufe an Schulen, die Jugendselbstmordrate in Neuseeland und um die Macht und den Einfluss des Fernsehens zu gehen scheint. Als kurze Einsprengsel unterbrechen sie den Erzählfluss, der tagebuchartig in Ich-Form aufgezeichnet ist. In diesen Aufzeichnungen spricht Beck mit einem konstruierten "Du", einem Gesamtabbild der Medienwelt, in dem vom schmierigen Moderator einer x-beliebigen Talk-Show bis hin zum schwer seriösen Nachrichtensprecher alle Gesprächspartner aufgehoben sind.

"Ich blicke zu dir hinüber. Das heißt natürlich, es ist wieder nur der Fernseher eingeschaltet [...] Wie immer bemühe ich mich in den Gesichtern dort zu lesen, bis sie sich zu einer Art Gegenüber zusammenfügen. Das nenne ich du, an dieses Du richte ich meine Sätze, ich lege mir seine Kommentare zurecht, deine Kommentare. Es ist lächerlich. Doch mit wem sollte ich gerade darüber reden, wenn nicht mir dir."

Doch so wie der ständig laufende Fernsehapparat nur in eine Richtung spricht, verhält sich auch Becks "Du". Beck wartet auf Antworten, doch er bekommt keine. Man ahnt, dass dies alles nicht gut ausgehen kann.

Beck ist Leiter einer Theater-AG, die während ihres dreijährigen Bestehens noch kein einziges Stück aufgeführt hat. Zu Beginn des neuen Schuljahres startet er einen neuen Versuch mit Wedekinds "Frühlings Erwachen". Als Reaktion darauf spielt ihm seine Gruppe eine eigene, kleine Szene vor, in der aus der Perspektive eines Mädchens und ihres jungen Freundes Sex thematisiert wird, quasi "Frühlings Erwachen" am Ende des ausgehenden Jahrtausends. Beck applaudiert "ein paar Minuten lang" und erklärt "mit schlichten, unaufgeregten Worten die Stunde für beendet." Er ist nicht in der Lage, mit seinen Schülern zu kommunizieren, statt dessen läuft die alles zermalmende Reflexionsmaschine in seinem Hirn an. Er beobachtet, hört zu und versucht im selbstmitleidigen Gespräch mit seinem oszillierenden "Du" das Aufgenommene zu deuten. So auch beim obligatorischen gemeinsamen Rauchen auf dem Flur, als nach der Sexszenenaufführung sein Schüler Marlon begeistert einen Monolog über die neue Platte von Tocotronic hält:

"Er wiederholte eigentlich bloß ständig den Titel der Scheibe, den er als echt geil, echt cool charakterisierte, er hob ihn geradezu in den Himmel. Ich weiß nicht, wie diese Musik klingt, aber ich meinte, es mir vorstellen zu können, als ich Marlons minimalistischen Ausführungen zuhörte: 'Es ist egal, aber. Egal. Aber. Aber, versteht ihr, aber."

Marlons Mitschüler werden ihn wohl verstanden haben, für Beck jedoch bleibt nichts als Unwohlsein und vage Vermutungen übrig. Er ist jedoch schon zu sehr, wie er an anderer Stelle selbst schreibt, in der "Beobachtung der Beobachtung" gefangen. Er lässt sich mehr und mehr gehen, trinkt zu viel und fängt ein platonisches Verhältnis mit seiner klugen Lieblingsschülerin Nadja an.

Die Raffinesse von Niemanns Roman besteht darin, dass man dem Protagonisten Frank Beck auf den Leim geht, sich von seinem Wortstrom verwirren lässt. Es geht ihm nicht um das Eingeständnis der Unmöglichkeit, den anderen nicht (er)kennen zu können, in diesem Falle Nadja, ihre Clique, seine elfte Klasse. Die lebensmüde Absage, dass man "sich die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren" müsste - gesprochen von Büchners "Danton", klassische Reclam-Schullektüre in der Oberstufe -, ist nicht diejenige Becks. Er ist zwei Jahrhunderte weiter. Beck leidet und ist ebenfalls des Lebens müde, doch es ist die mediale Leere, das geborgte Leben aus zweiter Hand, an dem er krankt. Seine Beziehung zu Nadja endet mit ihren Sätzen: "Lass es gut sein. Unser Leben wirst du nie kapieren." Zuvor hatte sie in einem letzten Gespräch in einem Burger King ihrem Lehrer Frank Beck in einer wütenden, furiosen Rede klarzumachen versucht, wo sein Problem liegt: "Vielleicht willst du ja gar nicht, daß es aufhört." Beck fasst zusammen: "Strenggenommen hatte ich gar nichts verstanden von dem, was sie gesagt hatte ...".

Die erzählerische Strategie in der "Schule der Gewalt" will es, dass Privates nicht ohne mediales Begleit-Tamtam steht. So schmuggelt der Erzähler an dieser Stelle noch Bundeskanzler Gerhard Schröder nach seinem Amtsantritt im Herbst 1998 mit in die Lehrer-Schülerin-Tragödie hinein:

"Vor dem Bildschirm in der Bahnhofshalle blieben wir stehen, n-tv zeigte ein Interview mit Gerhard Schröder, dem neuen Kanzler, dürfen wir auch nicht verdrängen, daß Regieren durchaus auch Spaß machen darf, sagte er gerade, Nadja reichte mir zum Abschied die Hand."

Generationenwechsel. Mediale Inszenierungen bis zum Abwinken. Beginn der Spaßgesellschaft, an der Beck verzweifelt.

Im Frühjahr 1999 muss Beck mit auf eine Jahrgangsstufenfahrt nach Leipzig. Mit dabei Nadja und die Leute aus der Theater-AG. Beck steht bereits kurz davor durchzudrehen. Während für ihn und die Schüler in Leipzig ein dichtgedrängtes Kulturprogramm abläuft, erschießen Dylan Klebold und Eric Harris an der Columbine High in Littleton/Colorado dreizehn Menschen. Abends und nachts verfolgt Beck Nadja und ihre Clique durch die Straßen und Kneipen Leipzigs, bis Beck schließlich sein Messer aufschnappen lässt und ... Hier bricht das Buch ab, der letzte, lakonische Satz lautet programmatisch: "Wir werden sehen."

Titelbild

Norbert Niemann: Schule der Gewalt. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
320 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446200568

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Titelbild

Norbert Niemann: Schule der Gewalt.
dtv Verlag, München 2003.
320 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3423130741

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