Mit Depressionen gedüngt

In seinem neuen Roman "Landnahme" erzählt Christoph Hein von den Mühen der Integration

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einem Vortrag von 1985 fügt Christoph Hein den zahlreichen Definitionen des Menschen eine weitere hinzu. Der Mensch, heißt es da, sei "das Tier mit dem dicksten Fell". Von diesen dickhäutigen, vermeintlich aus Selbstschutz sich abschirmenden Tieren tummeln sich einige unter dem Personal des 1944 in Schlesien geborenen Schriftstellers. Schon die Heldin von "Drachenblut", der Novelle, mit der Hein 1982 auch in der Bundesrepublik bekannt wurde, sagte von sich: "Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren." Dabei will sie nichts anderes als "eine nette, sehr normale Frau" sein.

Ein solcher Dickhäuter, der dank einer Mischung aus Lebensklugheit und Verbohrtheit die Welt nicht an sich heran lässt und wie durch ein Bad im Blut des Drachens unverletzbar scheint, ist der Protagonist von Heins neuestem Roman "Landnahme". Auch Bernhard Haber will doch eigentlich nur "sehr normal" sein - wie alle anderen auch. Dass der Weg zur Normalität für ihn sehr steinig ist, dafür sorgen diese anderen prompt, die ihn, den 1950 als Aussiedler aus Breslau ins fiktive Sachsenstädtchen Guldenberg gekommenen Schreinersohn, niemals vergessen lassen, dass er doch eigentlich der Andere und Fremde ist und immer bleiben wird. "Irgendwie kamen sie aus einem Deutschland", sagt einer der Erzähler wie zur Erklärung, "das nicht unser Deutschland war." Seines Vaters Tischlerei geht in Flammen auf - der Verdacht auf Brandstiftung bleibt nicht lange nur Vermutung. Sein geliebter Hund wird mit einer Drahtschlinge erwürgt, und als sein Vater am Ende erhängt aufgefunden wird, glaubt Haber keine Sekunde lang an einen Selbstmord. Und der Schuldige? "Wenn Sie den Täter haben wollen, schreiben Sie Guldenberg hin", sagt Habers Vater nach dem Brand seiner Tischlerei zum Polizisten.

Christoph Hein ist sich der erzählerischen Schwierigkeit bewusst, die es bedeutet, einen solchen Charakter wie den Bernhard Habers in den Mittelpunkt des Geschehens zu lassen. Obwohl Habers Schicksal sich durchaus bewegt gestaltet und schließlich geradezu "repräsentativ" daherkommt, muss er uns in einer auktorialen Erzählweise doch fremd, fast unsympathisch bleiben. Den Schweigsamen von sich selbst erzählen zu lassen, lässt wiederum die Plausibilität der Erzählung kaum zu. Hein will seinen Helden, viel eher als in "Drachenblut", auch in Situationen zeigen, die "unter die Haut gehen". Daher versammelt er, wie schon im ebenfalls in Guldenberg spielenden Roman "Horns Ende" von 1985, fünf Personen aus dem Leben Habers, die Auskunft über ihn geben können, freilich stets in konsequent subjektiver Prägung, so dass es bei der bloßen Vermutung bleibt: Mutmaßungen über Bernhard.

Der Leser muss sich sein Bild über seinen Helden selber anfertigen. Hilfestellung erhält er dabei von einem frühen Schulkameraden, von einem Mädchen, das einige Jahre lang seine Freundin war und doch nicht aus ihm schlau wurde, von einer etwas tragikomischen Figur, die ihn auf dem Weg in die Kriminalität und wieder hinaus begleitet, von seiner Schwägerin und von einem Geschäftsfreund der späteren Jahre bis nach der Wende.

Sie alle erzählen von Haber wie von einem Toten, den sie einst gekannt haben. Folgerichtig kommen die fünf Episoden wie Teilansichten eines großen Ganzen daher, das letztendlich doch nicht erkannt wird, zumal sich die erzählte Zeit über einen Zeitraum von 50 Jahren erstreckt und sich das Beobachtungsobjekt darin erstaunlich wandelbar zeigt. Die Erzähler mühen sich damit ab, ihre Erinnerungen zu einem kohärenten Text zu ordnen, und man begreift annähernd, was es für den Historiker heißt, anhand von Zeitzeugenberichten ein einigermaßen in sich stimmiges Geschichtsbild zu entwerfen. Doch im Auge des Betrachters bleibt die Figur, um die es geht, ein blinder Fleck. Die fünf Erzählungen, mal kürzer, mal länger, mal eng am Gegenstand, mal abschweifend, kreisen um ihren Fixstern, berühren ihn jedoch nie. Haber bleibt die Leerstelle, die zu füllen allein Aufgabe des Lesers bleibt. Umso mehr lernen wir - wie nebenbei - über die Prosa der herrschenden Verhältnisse.

So einen kennt ihr doch auch, scheint Hein uns zuzurufen. Und tatsächlich, ein Charakter wie derjenige Habers kommt uns bekannt vor, aber er ist nicht beschränkt auf eine Himmelsrichtung oder eine soziale Konstellation. Im Osten wie im Westen gab und gibt es sie, ob sie "Aussiedler" sind oder "Alteingesessene". Die Suche nach den geistigen und materiellen Voraussetzungen für den Typus Bernhard Haber lässt Hein, der "Chronist ohne Botschaft", geschickt ins Leere laufen. Erstaunlich überhaupt, wie allgemeingültig - bei allem akkurat geschnitzten Lokalkolorit - die Geschichte vor uns dasteht: Am (vorausgreifenden) Anfang und am Ende steht Haber, zum wohlhabenden und respektierten, "alteingesessenen" Großbürger geworden, beim Straßenkarneval auf der Treppe des Rathauses. Guldenberg wird hier - und mittels Umklammerung durch Pro- und Epilog eigentlich auch im gesamten Roman - zu einer archetypischen deutschen Kleinstadt in der Provinz, zu einem sächsischen Krähwinkel.

Dort, vor dem Rathaus, stehen die Sieger der Geschichte. Der Schreinersohn hat sich wie ein Holzwurm unermüdlich und unerbittlich nach oben gebohrt, von wo aus er dem feiernden Volk zuwinkt. Er hat es geschafft, er ist normal geworden, die Landnahme ist erfolgt. Erstaunlich ist, welche Perspektive der Erzähler bei den knappen Schilderungen der Jahre nach der Wende einnimmt. Nachdem wir den Helden und seinen Arbeiter- und Bauernstaat über fünf Jahrzehnte durch die Geschichte hindurch verfolgt haben, dabei Geschichten von Zwangskollektivierung und Republikflucht oft atemlos zuhören mussten, scheint sich am Ende (fast) alles in Wohlgefallen aufzulösen. Das Spiel ist gespielt, die Verhältnisse sind geklärt, das bessere Wirtschaftssystem hat obsiegt, und seinen Protagonisten, zu denen Haber gehört, geht es wahrlich nicht schlecht. Kein Wort von Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Orientierungslosigkeit, dem Gefühl der Deklassierung und Demütigung. Aber es ist ja Karneval.

Nur ein kleiner Schatten fällt auf die Idylle des Schlussbilds. Habers Sohn prügelt sich mit Ausländern, und auf die Frage seines Vaters, was denn geschehen sei, entgegnet er, Karneval sei ein deutsches Fest, die hätten da nichts zu suchen. "Dein Großvater war auch ein Vertriebener", antwortet ihm daraufhin der Vater. Was hier so arg moraldidaktisch daherkommt, unterstreicht letztlich doch nur auf etwas plumpe Weise, woraufhin der gesamte Roman angelegt ist: Die blühenden Landschaften der Gegenwart sind "mit Depressionen gedüngt", wie es der Apotheker Guldenbergs hellsichtig ausdrückt, und die passenden Blüten trägt sie auch: "... sie verströmen den Geruch von Neuritis und Wahnsinn." Die Blumen des Bösen wachsen in der dumpfen Treibhausatmosphäre des deutschen, fremdenfeindlichen Kleinstadtmiefs.

"Die Geschichte interessiert uns um der Gegenwart willen", sagte Hein 1989 in einer Rede über "Die fünfte Grundrechenart", und es wird deutlich, dass es mit diesem Haber und seiner feinen Gesellschaft so nicht enden darf. Das Ende, das uns Hein präsentiert, darf nicht das Ende der Geschichte sein, kann es auch gar nicht, da wir wie die eingeschränkt erkenntnisfähigen Erzähler im Roman nur den kleinen Ausschnitt eines unendlichen Prozesses erblicken dürfen. Geschichte wird uns gar nichts lehren, weil wir sie nicht vom Ende her aufzäumen können. Für Christoph Hein hat das Bestehende nur Wert, wenn es änderbar ist. Und dieses Ändern scheint für ihn mit dem Beschreiben zu beginnen, denn "das Unbeschreibliche hätte - unbeschrieben - Bestand gehabt."

Titelbild

Christoph Hein: Landnahme. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
357 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3518416014

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