Versemmelt

Martin Semmelrogge liest Bukowski

Von Johannes ThomsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Thomsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Brutal ehrlich und realitätsnah verarbeitet Charles Bukowski in seinen Texten die Abgründe der menschlichen Existenz. Themen wie Arbeitslosigkeit, Armut und exzessiver Drogen- und Alkoholkonsum ziehen sich wie ein roter Faden durch sein gesamtes Werk. Sprachlich zählen seine Texte zwar nicht zur Elite, doch gleicht das literarische Schaffen des in Deutschland geborenen US-Amerikaners einer Liebeserklärung an das Leben, einem Postulat der Moral und der Freiheit.

Mit "Nicht mit sechzig, Honey / Kid Stardust im Schlachthof" sind einige seiner Prosa-Gedichte und zwei Kurzgeschichten als Hörbuch erschienen. Gelesen werden die Texte von Martin Semmelrogge, der u. a. durch seine Rollen in Wolfgang Petersens "Das Boot" und Steven Spielbergs "Schindlers Liste" bekannt wurde. Charakteristisch für Semmelrogge ist das rauchig-rauhe Timbre seiner Sprache, die durchaus geeignet sein müsste, Bukowskis Texte tonträgerkompatibel zu verwirklichen.

Doch schon nach wenigen Minuten des Vorlesens verspürt man ein starkes Bedürfnis nach der Buchform. Nahezu unbetont leiert Semmelrogge Zeile für Zeile in den Raum. Nicht einmal ansatzweise transportiert er die Kraft des von Bukowski oft praktizierten Kurz-Satz-Stils. Mit immer wiederkehrenden Sprechpausen gelingt es Semmelrogge, auch den letzten Funken an Emotion in die Knie zu zwingen. Dabei ist die Auswahl der dargebotenen Texte eine hervorragende: Neben zwölf Gedichten finden sich zwei Kurzgeschichten, die nahezu jedes denkbare Szenario menschlicher Unvollkommenheit durchlaufen. Bukowski mischt surrealistische Gedankenmalerei, Traum- und Alptraumbilder mit real existierenden Komponenten: In seiner Fassung des Märchens "Schneewittchen und die sieben Zwerge" ist nicht - wie erwartet - von einem hübschen, jungfräulichen Mädchen die Rede, sondern von einer Prostituierten, die einen Zwerg im "Schlepptau" hat. Überraschende Wendungen und verworrene Gedankenspiele überzeugen von der Qualität Bukowskis. Bedauerlicherweise hängt die Qualität eines Hörbuches nicht ausschließlich von der Qualität der ihm zugrunde liegenden Literatur ab, sondern in erster Linie vom sprachlichen und artikulatorischen Vermögen des Sprechers. Semmelrogges Art zu lesen ist keineswegs aufdringlich oder schlecht, sie hat nur - bis auf die 'Verrauchtheit' - rein gar nichts mit der Ästhetik von Bukowskis Sprache gemein.

Sicherlich bietet das Hörbuch eine nette, kurzweilige Unterhaltung. Als ernstzunehmende Interpretation ist es für den eingefleischten Bukowski-Fan eher untauglich und dient wohl nur zur Vervollständigung der eigenen Sammlung.

Titelbild

Charles Bukowski: Nicht mit sechzig, Honey. Kid Stardust im Schlachthof. 1 CD.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Carl Weissner.
Der Hörverlag, München 2003.
75 min, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3899401697

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