Beckham und Apoll

Germaine Greer blickt auf das Knabenmotiv in der Bildgeschichte

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bilder stellen nie nur das aus, was sie darstellen, sondern immer auch den besonderen Blick darauf. Sie exponieren auch das sehende Subjekt und seine Art, zu sehen. Deswegen stellen sich dabei die Fragen danach, wie Objekte gesehen werden, wie sie in den Bann des Betrachters gezogen und aus welcher Perspektive sie betrachtet werden. Man kann also die Frage stellen, wessen Geschichte die Kunstgeschichte ist und wessen Blick sich hegemonial in ihr verdichtet.

Mit Recht darf vor allem angenommen werden, dass die bisherige Kunstgeschichte, wo sie fast ausschließlich Männer als homines pictores ehrt, auch einen patriarchalischen Blick reproduziert, der wiederum Frauen als reine Objekte des Auges (etwa als passive Objekte des Begehrens) konstruiert.

Die australische Kulturhistorikerin Germaine Greer möchte eine andere Kunstgeschichte schreiben. Ihr geht es um eine Bildgeschichte, in der die Herrschaft des patriarchalischen Blicks umgekehrt werden könnte, in der auch Männer als begehrenswerte Objekte inszeniert werden und in der sich Frauen zu Subjekten eines gelehrten, aber begehrlichen Blicks erheben.

Der "Knabe", bevor er die Initiation zum erwachsenen Mann durchläuft, erscheint ihr dabei als archetypisches Motiv. Er eigne sich als Gegenstand erotischer Begierde und sei dennoch kein Mann. Noch ohne Bartwuchs und dennoch schon geschlechtsreif, steht er verletzlich, von kindlich unschuldiger Schönheit da. Greer versucht nachzuweisen, wie in der Darstellung griechischer Gottheiten und christlicher Heiliger, aber auch von der kommerziellen Maschine der Popkultur unzählige Male auf dieses Schema zurückgegriffen wurde. Achill, Antinoos, Ganymed und auch der heilige Sebastian zählen zu den plausibleren Beispielen einer kunsthistorischen Erotisierung von Knabenmotiven und Männerfiguren.

Allerdings ist Greers Knabenschema sehr viel weiträumiger. Rockstars wie Elvis Presley, Robert Plant oder Jim Morrison dienen ebenso zu seiner Illustration wie Michelangelos David, so mancher Putto und die kleinen (weit von ihrer Geschlechtsreife entfernten) Jungs in der spanischen Genremalerei. Der Knabe ist ein eher unbestimmtes Objekt der Begierde. Und auch Idealisierungen sind in Greers Konzept des Knaben nicht ausgeschlossen.

Denn das Bild des Knaben ist ein Leitbild. Es enthalte bereits in nuce die bessere Möglichkeit der Geschlechterbeziehungen. Er ist ein Hoffnungsträger gerade deswegen, weil er quasi feminin, noch kein Mann und somit ein Mittler zwischen den Geschlechtern sein könnte. "Der Knabe Eros", schreibt Greer, "könnte die Geschlechter versöhnen, wenn wir ihn nur anerkennen." Er ist der "noch schöne" Mann, der noch nicht zum Subjekt der patriarchalischen Unterwerfung geformt wurde.

Denn im Augenblick der - mehr oder minder ritualisierten - Initiation erkennt Greer umgekehrt den Einsatz einer patriarchalischen Subjektivierung. Der Feind des Knaben ist deswegen gerade der Mann, der ihn aus egozentrischer Angst, aus dem weiblichen Blick verdrängt zu werden, züchtigt, militarisiert und so nach seinem Ebenbilde formt. Als Gegenmodell weist Greer einige Kulturen aus, in denen der Knabe bereits offen sexualisiert war.

Auf der Schwelle zur Initiation liegt die Möglichkeit einer Versöhnung der Geschlechter Greer zufolge zum Greifen nahe. Gewaltlos erotische Initiation von Knaben durch Frauen erscheint als die bessere Möglichkeit der männlichen Initiation. Männer, die befreit wären, Knaben sein zu dürfen, weil umgekehrt die Erotik des Knaben nicht länger verdrängt würde, treten als ihr Projekt hervor. Das feministische Versprechen einer von Herrschaft befreiten Sinnlichkeit gibt Greers Buch zweifellos eine gewisse Kraft. Eine selbstbewusste weibliche Lust und eine von ihrer eigenen Gewaltsamkeit geläuterte männliche Sexualität, die auch einmal Objekt sein dürfte, leuchten schwach am Horizont.

Allerdings haben sich vor dieses utopische Flämmchen eine ganze Menge Nebelschwaden gelegt. Denn Greers Anthropologie des begehrlichen, weiblichen Blicks ist vor allem historisch etwas abrupt. Sie springt von afrikanischen Stammesriten über antike Mythologie in die Kunstgeschichte der italienischen Renaissance und zur Popkultur der Gegenwart. Die verborgenen Wissen, die ihre feministische Kunstgeschichte freilegen möchte, erscheinen somit als archaische Wahrheiten, die als quasi unveränderter Grund allen Wandels durch die Geschichte hindurch wirksam sind. Zwischen dem griechischen Apoll und David Beckham liegen für Greer nur einige Minuten der Weltgeschichte. Beckham ist der Beweis dafür, dass "Apoll lebt". Immerhin trägt er manchmal Röcke und spricht mit niedlich piepsiger Stimme, was ihn zum Gegenstand erotischer Projektionen mache, gerade so, wie auch Apoll (vor allem der Apoll von Belvedere) seine ästhetische Kraft aus der erotischen "Frivolität" "eines Knaben" gewinne.

Für Greer gibt es insofern weniger Geschichte als vielmehr Männer, Frauen und Knaben. Das macht ihr Buch nicht nur methodisch etwas konservativ: Es kündet von Urwahrheiten. Und es schämt sich bei diesem Abstieg in die Tiefe der historischen Wahrheiten nicht für eine Sprache, die an Arztromane erinnert. "Feuer brennt" in den "Augen" des Jünglings auf einem Bild von Giovanni Lanfranco. Insgesamt strahlt Geschichte des weiblichen Blicks vor "Inbrunst", "Hingabe" und "Zärtlichkeit".

Und zu allem Überfluss erhebt sich die weiblich-knabenhafte Urwahrheit als umfassendes Prinzip des Guten, die eine larmoyante Kulturkritik legitimieren soll. So beklagt Greer ganz nebenbei, dass heutige Profisportler "wie Sklaven" gehandelt werden, dass Knaben von alten Männern in den Krieg geschickt werden ("eine Massenvernichtung der Knaben") und dass, wie Greer in einem Interview sagt, die "versteckten Wünsche" junger Frauen "von männlichen, meist homosexuellen Geschäftemachern ausgebeutet wurden, die nur ein Ziel kannten, nämlich das Geld in den Taschen dieser Frauen."

Insofern geht es Greer nicht nur um den Knaben. Es geht ihr um eine bessere Welt, in der auf Ausbeutung, Krieg und sexuelle Unterdrückung verzichtet werden könnte. So weit, so gut. Ob sie in der verborgenen Ontologie der Weiblichkeit und im Motiv des Knaben allerdings den Schlüssel zur Überwindung des Übels gefunden hat, darf bezweifelt werden.

Titelbild

Germaine Greer: Der Knabe.
Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2003.
256 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3806729204

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