In die höchsten Regionen des Gedankens strebend...

Hans Wollschläger nähert sich im "Grundriß eines gebrochenen Lebens” der komplizierten Persönlichkeit Karl Mays

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Nachwort zu dieser dritten Ausgabe des Karl May-Buchs, das, 1964 geschrieben, erstmals ein Jahr später erschien, bis 1987 in der Bundesrepublik vier Auflagen erlebte und 1990 im VEB Verlag der Kunst Dresden eine kompetente und mit weiteren Texten angefüllte Taschenbuchausgabe erlebte, bekennt der Autor, dass Karl Mays Leben "mich auf eine fast irrationale Weise durch mein eigenes hin begleitet." Nun also alles auf Anfang mit der Neuausgabe des ,alten' Buchs. Man mag es als eine Art bilanzierende Rückschau verstehen auf die vielfältigen Beschäftigungen mit Karl May und damit auch - darauf verweist Wollschläger ebenfalls - hinsichtlich der anderen "wahrhaft mächtigen Bezugsperson", Arno Schmidt. Denn es war vor allem dieses Buch über das "Fänomen May", das Wollschläger in eine "Schülerschaft" ihm gegenüber brachte.

Doch muss, wer das nun neu vorliegende Karl May-Buch heute liest, diese lebensgeschichtlichen Zusammenhänge nicht kennen. Heute wie damals fasziniert das Buch aus Gründen, die mit der Person Karl May zu tun haben und dem gelungenen und faszinierenden Ansatz, mit dem Wollschläger sich dieser Person nähert(e). Wollschlägers "Grundriß" erhebt nicht den Anspruch, das vielfach gebrochene Leben des Karl May in all seiner Komplexität wiederzugeben. An manchen Stellen finden sich im Text immer wieder Aufforderungen, diese oder jene Episode in Mays Leben intensiv und systematisch zu erforschen. Damals, 1965, eine Aufforderung zu großen Taten, denn bis auf den Einzelgänger des deutschen Literaturbetriebs Arno Schmidt, dessen Würdigung des Schriftstellers Karl May nur einer eingeweihten Gemeinde nachvollziehbar war, galt der Sachse aus der Villa Shatterhand doch nur als Jugend- oder Abenteuerschriftsteller, dessen vielgelesene Bände in zum Teil fahrlässig verhunzten Versionen von konkurrierenden Karl-May-Vermarktern in West und Ost vertrieben wurden. Es war Wollschläger, der die Persönlichkeit Mays in den Vordergrund rückte und über die Darstellung eines "gebrochenen Lebens" zu einer neuen Würdigung des Werkes beitrug. Mittlerweile, davon zeugt der überarbeitete Anmerkungsapparat, ist viel Grundlagenarbeit geleistet und die Wunderwelt Karl Mays im wesentlichen erkundet worden.

Ebenso einleuchtend wie ergreifend weiß Wollschläger zu schildern, wie der in beschwerlichen Verhältnissen im sächsischen Hohenstein-Ernstthal 1842 geborene Karl May schon sehr bald in den für sein Leben bestimmenden Zwiespalt gerät: Zum einen ist da das Streben nach einer ungewissen, eher erahnten als bewusst angestrebten geistigen Höhe, die dem Schriftsteller wie ein fernes Wunschgebilde vorschwebt. Zum anderen ist da aber die Lebensrealität der wilhelminisch-steifen Kaisergesellschaft, die den nach Höherem strebenden May in tragikomisch anmutende Lebensumstände verwickelt, deren Folgen ihm immer wieder außer Kontrolle geraten. Das beginnt mit den hochstaplerischen Betrügereien, in ihrer Durchführung von durchaus köpenickianischem Format, mit denen der junge May in Sachsen eine gewisse Berühmtheit erlangte. In unendlich mühseligen und auszehrenden Prozessen gegen kleinkarierte Abstauber, aber auch gezielt verleumderische Anwürfe von Menschen, die er selber einmal in sein Umfeld geholt hatte, müht May sich bis an sein Lebensende, diese Folgen zu bewältigen. Dann aber ist da immer wieder die Kunst- und Wunschfigur May, der vielgereiste Abenteurer, dessen Geschichten für seine Leser soviel Authentizität atmen. Typisch für diese eher komisch-burleskhaften Lebensumstände Mays ist eine Rückmeldung auf frühe Humoresken und Reisebilder, die er verfasste: da schrieb am 12.7.1877 Peter Rosegger einem Kollegen über "Die Rose von Kahira, ein Abenteuer aus Ägypten": "Diese Geschichte ist so geistvoll und spannend geschrieben, daß ich mir gratuliere [...]. Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich den Verfasser für einen vielerfahrenen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muß". Tatsächlich saß May von Mai 1870 bis Mai 1874 im Zuchthaus.

Je mehr Karl May von seinem Publikum als ihr Kara ben Nemsi, ihr Old Shatterhand, Blutsbruder der edlen Rothaut Winnetou, in Beschlag genommen wurde, umso eher mochte er glauben, tatsächlich dieser Held zu sein. In jedem Fall war die Sachlage bereits so weit verworren, dass er bei seiner großen Orientreise, die ihn als fast Sechzigjährigen endlich in die Nähe einiger seiner Schauplätze bringt, eine kuriose Scheinwelt entstehen lässt, indem er unzählige Postkarten und sonstige Dokumente seiner Reise an heimische Zeitungen verschickt, die dergestalt dokumentieren sollen, dass der berühmte Abenteurer im Orient seine Freunde wiedersieht. Erstaunlich mutet dabei an, wie gut dieses Täuschungsspiel funktionierte. Es garantierte in jedem Fall geldwerten Erfolg, von dem sich immer wieder jene dubiosen Figuren angezogen fühlten, die, wie der verkrachte Rudolf Lebius, mit aller öffentlichen Macht daran gingen, das ,Lügengebäude' Mays zu Fall zu bringen, um daraus Profit ziehen zu können. In diesem Hickhack nun erhebt sich das ,Spätwerk' Mays zu lange verkannter Größe. Ein komplizierter Symbolismus durchzieht den vierten Winnetou-Band oder "Ardistan und Dschinnistan". May verwebt seine persönlichen Geister mit denen der Abenteuerwelt und alle stehen sie für einen symbolischen Weltfrieden, als dessen Verkünder der alte May schließlich kurz vor seinem Tode am 22. März 1922 in Wien vor begeistertem Publikum auftritt. Für einen Moment vereint sich die irrationale Sehnsucht der Gründerzeitgesellschaft nach ,ihrem' exotischen Helden abseits der imperialen Machtrealitäten des Kaiserreichs, mit den Wunschbildern Karl Mays. Nun ist er die Verkörperung einer altersweisen Friedensbotschaft, die die Pazifistin Bertha von Suttner zu ihrer Würdigung veranlasste: "Wer den schönen alten Mann an jenem 22. März sprechen gehört, durch ganze zwei Stunden weihevoll, begeisterungsvoll, in die höchsten Regionen des Gedankens strebend, - der mußte das Gefühl haben: In dieser Seele lodert das Feuer der Güte."

Titelbild

Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens.
Wallstein Verlag, Göttingen 2004.
304 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3892447403

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