Primärer Kotzer und Spucker

Die sensationelle Neu-Übersetzung der "Reise ans Ende der Nacht" zeigt den frühen Louis-Ferdinand Céline frischer, zupackender, echter denn je

Von Ina HartwigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ina Hartwig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Louis-Ferdinand Céline (1894 bis 1961) ist in Deutschland eher wenig bekannt, und auch in Frankreich war er noch bis vor kurzem mit einem klebrigen Tabu behaftet. Nicht, dass dieses Abstandwahren unbegründet gewesen wäre; immerhin hat der Mann, seines Zeichens Armenarzt und einer der bedeutenden Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, einige böse, zum Teil offen antisemitische Pamphlete geschrieben, zu einer Zeit, in der man sich über die Natur des Antisemitismus keine Illusionen mehr machen konnte. Das bekannteste seiner Pamphlete sind die "Bagatelles pour un massacre" (1937), auf Deutsch 1938 im Dresdner Zwinger-Verlag unter dem propagandistisch modifizierten Titel "Die Judenverschwörung in Frankreich" erschienen; und zugleich ist dieses Pamphlet komplett unbekannt, da es seit Kriegsende nicht mehr vertrieben wird. Sogar in der Werkausgabe der "Pléiade" fehlt der Text, wie auch alle anderen Pamphlete - etwa "Mea culpa" und "L'école des cadavres" - fehlen.

Célines Witwe, die heute hochbetagt bei Paris lebende, frühere Ballett-Tänzerin Lucette Destouches, hat es so verfügt. In ihrem Erinnerungsbuch über ihr nicht immer einfaches Leben mit Céline erklärt sie ihre "resolute" Haltung: "Die Pamphlete wurden in einem bestimmten historischen Kontext, in einer ganz besonderen Zeit geschrieben und haben Louis und mir nur Unglück gebracht. Heute besitzen sie keine Daseinsberechtigung mehr." Sie glaubt allen Ernstes: "Für ihn waren die Juden Kriegstreiber, und er wollte einen Krieg vermeiden. Das ist alles."

Ein Kollege von Céline - Kollege in doppelter Hinsicht -, der "Hautarzt aus der Bozener Straße", wie er an seinen Brieffreund Oelze schrieb, Gottfried Benn also, hatte seinerzeit die deutsche Übersetzung der "Bagatelles" gelesen - und war zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen als die leutselige Lucette Destouches. Am 11. Dezember 1938 schreibt Benn: "Über Céline habe ich mir schon Gedanken gemacht. Aber mich wundert es nicht, seit ich sein letztes Buch las, das zweite, mit den zwei Aufsätzen. Er ist ein primärer Spucker u. Kotzer. Er hat ein interessantes elementares Bedürfnis, auf jeder Seite, die er verfasst, mindestens einmal je Scheisse, Pisse, Hure, Kotzen zu sagen. Worüber ist nebensächlich. Im zweiten Buch tat er es gegen die Sowjets u. gegen die medizin. Facultäten. Jetzt also gegen die Juden. Es ist seine Ausdrucksart, seine Methode. Im nächsten Band wird es die Küstenschiffahrt oder die Behandlung der Gärtnerlehrlinge sein. Primärer Kotzer. Garnicht anders zu erklären."

Ob Benn nun Recht hatte oder nicht mit seiner Einschätzung des Céline'schen Antisemitismus, den er schon ideologisch entschärfte, indem er ihn auf eine quasi angeborene Grunddisposition ("primärer Kotzer") zurückführte: Wichtig ist, dass er die "Bagatellen" letztlich demselben Drang zu Ekel- und Hassausbrüchen zuordnete, den er schon in Célines Roman "Reise ans Ende der Nacht" ausgemacht hatte. Wäre Céline nicht Autor jener "Reise" gewesen, hätte sich Benn kaum mit der Lektüre der Pamphlete herumgeschlagen. Dieser "grosse Roman" enthalte, so Benn an Oelze, Stellen grosser wunderbarer Konzentration und Durchleuchtung". Er werde das Buch "nicht vergessen".

Als "Voyage au bout de la nuit" im Oktober 1932 im Verlag Denoël herauskam - Gallimard hatte das Manuskript abgelehnt -, schlug das Buch des gänzlich unbekannten Autors ein wie eine Bombe in der literarisch-akademischen Szene von Paris. Nicht wegen irgendeines Antisemitismus - er ist hier noch nicht einmal zu erahnen -, sondern seiner außergewöhnlichen Originalität wegen. Den angeseheneren Literaturpreis, den Prix Goncourt, verpasste Céline zwar knapp aufgrund eines Ränkespiels, das ihn tief kränkte, aber den Prix Renaudot bekam er prompt. Die Verkaufszahlen ließen sich sehen für einen Erstling, im Januar 1933 waren schon 50.000 Exemplare über die Ladentische gegangen, doch für Céline war der Erfolg vergiftet. Dass ihm der Prix Goncourt vorenthalten worden war, obwohl seine Wahl eigentlich schon feststand, bot ihm immerhin einen wunderbaren Anlass, die literarische Welt für verdorben zu halten.

In Deutschland war unterdessen Hitler an die Macht gekommen, und der Münchner Piper Verlag, der die Rechte an der "Reise" sofort nach Erscheinen im Oktober 1932 gekauft hatte, wollte das Buch plötzlich nicht mehr veröffentlichen. Als Grund wurde die für unzureichend befundene deutsche Übersetzung genannt. Angefertigt hatte sie Isak Grünberg, ein Jude, der sich bedingungslos für Céline begeisterte. Piper verkaufte die Rechte samt Grünbergs Übersetzung an den Verlag Julius Kittls Nachf. in Mährisch-Ostrau bei Prag. Hier nun erschien die "Reise" im Dezember 1933; in der zweiten Auflage wurde der - offensichtlich jüdische - Übersetzername nicht mehr genannt. Im übrigen war Isak Grünberg mit der veröffentlichten Version seiner Übertragung alles andere als einverstanden, ja, er erkannte sie zu seinem Entsetzen kaum wieder. Klaus Mann bot ihm die Gelegenheit, in der Amsterdamer Exilzeitschrift "Die Sammlung" zu protestieren (5. Heft, Januar 1934), und dem Kittl Verlag, darauf zu erwidern (8. Heft, April 1934); wobei eine im Detail schwer zu durchschauende, in jedem Fall aber miese Affäre offenkundig wird.

"Der Verlag", lautete Grünberge Vorwurf, "hat den Übersetzer, ohne ihn um die Ermächtigung zu ersuchen, ohne ihm von den Änderungen und Kürzungen auch nur Mitteilung zu machen, vor das fait accompli eines vollständig geänderten Textes seiner Übersetzung gestellt". Fast jeder Satz sei verändert, etliches gekürzt und entstellend zusammengefasst worden. Eines seiner Beispiele sei hier wiedergegeben. Bei Céline steht:

"ça allait peut-être un peu mieux qu'il y a vingt ans, on pouvait pas dire que j'avais pas fait des débuts de progrès, mais enfin c'était pas à envisager que je parvienne jamais moi, comme Robinson, à me remplir la tête avec une seule idée, mais alors une superbe pensée tout à fait plus forte que la mort et que j'en arrive rien qu'avec mon idée à en juter partout de plaisir, d'insouciance et de courage. Un héros juteux."

Er, Grünberg, habe übersetzt:

"Es ging vielleicht ein bisschen besser als vor zwanzig Jahren, man konnte nicht sagen, dass ich nicht Anfänge von Fortschritten gemacht hätte, aber schliesslich, es war nicht in Betracht zu ziehen, dass ich es jemals zustande bringen würde, wie Robinson, mir den Kopf mit einer einzigen Idee anzufüllen, aber dann mit einem prachtvollen Gedanken, weit stärker als der Tod, und dass es mir gelingt, bloss mit meiner Idee, überall von Vergnügen zu strotzen, von Sorglosigkeit und von Mut. Ein strotzender Held."

Daraus habe der Verlag Kittl gemacht:

"Anfangs ging's ja ganz gut, so mit zwanzig Jahren, aber es war doch gleich zu sehen, dass ich nie, wie Robinson, einen so prachtvollen Gedanken, alles leicht zu nehmen und zu geniessen, fassen würde. Er hat mich übertrumpft."

Man muss Isak Grünberg nachträglich schlichtweg recht geben, dass die "Überarbeitung" seiner Übersetzung durch den Kittl Verlag erstens eine Beschneidung darstellt (besonders gegen Ende hin), zweitens einen fehlerhaften Eingriff; "il y a vingt ans" heißt nun mal "vor zwanzig Jahren" und nicht "mit zwanzig Jahren". Wenn hier einer des Französischen nicht mächtig war, dann der Kittl Verlag. Womit nichts über Grünbergs Arbeit gesagt sei - sie ist in der verstümmelten Fassung untergegangen.

Und das Kuriose ist: Diese Fassung erschien bis vor kurzem dennoch unter Grünbergs Namen, und zwar im Rowohlt Verlag, der nach dem Zweiten Weltkrieg die deutschsprachigen Rechte an Célines Romanen erworben hatte. So haben die "Reise ans Ende der Nacht" nicht nur Benn und Thomas Mann (der sie ein "wildes Produkt" nannte) in dieser verfälschten und verkürzten Ausgabe gelesen, sondern bis gestern alle deutschsprachigen Leser. Erst jetzt ist das Grünberg-Kittl'sche Potpourri durch eine sensationelle Neu-Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel abgelöst und - das kann man gar nicht genug bejubeln - übertroffen worden. Der frühe Céline wirkt frischer, zupackender, echter denn je.

Was Hinrich Schmidt-Henkel zutiefst begriffen und bewältigt hat, ist die Aufgabe, einen ganz eigenen "Ton" für die "Reise" zu finden. Wie schon der von Grünberg in der "Sammlung2 zitierte Passus zeigt, schreibt Céline ein umgangssprachliches Französisch, das assoziativ-mäandernd vor sich hinzuplätschern scheint - immer an den Gefühlen dran, auf die dieser Autor den allergrößten Wert legte, niemals am Schrift-Französisch der Akademien orientiert (es sei denn, um sich darüber lustig zu machen).

Umgangssprache: das bedeutet einerseits, dass Céline ganz unbekümmert Argot-Begriffe verwendet (wie andere es vor ihm auch schon getan haben), um die Obszönität und Niedrigkeit des Menschen (auch seiner selbst) beim Namen zu nennen, andererseits schreibt er gezielt inkorrekt. So verwendet er nicht die vollständigen Verneinungselemente "ne pas", sondern verkürzt wie im Mündlichen üblich auf das "pas". Das erzeugt eine leicht angeschmuddelte Musikalität, die um so schwieriger ins Deutsche zu bringen ist, als sie sich mit einem ätzenden, mitreißenden Witz verbindet. Dieser Witz ist der Kitt, der alles zusammenhält.

Nehmen wir zum Beispiel die Scheißhaus-Episode aus New York. Sie ist wie geschaffen, um Benns Diagnose zu illustrieren, und befindet sich knapp vor Mitte des über 600 Seiten dicken Romans. Bardamu - so der Name des Ich-Erzählers - hat schon allerhand hinter sich, als er endlich in Amerika ankommt, wo er glaubt, seinem bis dahin ausgesprochen elenden Leben eine Wendung zum Besseren, ja zum Großartigen geben zu können (und seine Wünsche sollen teilweise sogar erfüllt werden). Seine bisherigen Stationen waren: das Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs als immermüder Kürassier; als Patient in der Psychiatrie, wo ihm der verloren gegangene Patriotismus mit den neuesten wissenschaftlichen Methoden wieder eingebleut werden sollte (vergeblich); als Kolonialfranzose am unteren Ende der Befehlskette in der schwarzafrikanischen Hölle von Togo; ohnmächtig vor Fieber schließlich von Einheimischen verkauft: auf eine Galeere, die ihn nach New York brachte - beziehungsweise in einen öden Quarantäne-Hafen in der Nähe der verheißungsvollen Stadt.

Irgendwie hat Bardamu es geschafft, auszubüchsen, und nun sitzt er, bitterarm und mit nagend leerem Magen, auf einer Bank in Manhattan und genießt den Anblick der unendlich vielen schönen Frauenbeine, die an seinen gierigen Augen vorbeistreifen. Denn schöne, gesunde Frauen, da kommt in der rassistisch angehauchten Misanthropie des Poeten Céline ein Stück geiler Libertinismus durch, Frauen sind die Würze des Lebens: "Sie wirkten umso göttlicher auf mich, diese Erscheinungen, als sie mich durchaus nicht zu bemerken schienen, mich da nebenan auf der Bank, trottelig, sabbernd vor erotisch-mystischer Bewunderung, vor Chinin und auch vor Hunger, zugegeben."

Ein Meisterstück des epischen Kontrapunkts ist diese Episode. Das Thema "Frauen und Hunger" - zweifacher Hunger - geht unmittelbar über in das Thema "Männer und Verdauung": Erst eine öffentliche Parkbank, dann eine öffentliche Toilette; oben Geld und Kommerz, unten - Freud lässt grüßen - der "fröhliche Kack-Kommunismus", die "großartige Verdauungsvertraulichkeit" der vielen "Rektalarbeiter", die im Odem der Ausscheidungen von Zelle zu Zelle flanieren und "raffinierte Foltermethoden" für die Verstopften androhen. "Einfach so, unter Männern, frisch von der Leber weg, unter dem Lachen aller Umstehenden, begleitet von gegenseitigen anfeuernden Zurufen, ganz wie beim Football. Erst mal zog man beim Ankommen das Jackett aus, als wollte man Kraftsport treiben. Na ja, man legte das entsprechende Kostüm an, so gehörte sich das."

"Na ja", was mag das im Französischen heißen? Sein Ziel, schreibt Hinrich Schmidt-Henkel im Nachwort zur "Reise", sei ein zeitlich möglichst nicht festzulegender Stil gewesen. Jargonhafte Wendungen habe er auf ihre Entstehungszeit hin überprüft und nur jene Ausdrücke verwendet, die in den 30er Jahren bereits gebräuchlich waren. Das gilt auch für das "frisch von der Leber weg" - den Ausdruck hatte schon die Kittl-Grünberg'sche Übersetzung an dieser Stelle verwendet -, im Original steht einfach nur "sans façons": "Entre hommes, comme ça, sans façons, aux rires de tous ceux qui étaient autour, accompagnés des encouragements qu'ils donnaient comme au football. [...] On se mettait en tenue en somme, c'était le rite." Die Antwort auf die delikate Frage lautet also: Das "Na ja" gibt es im Original nicht, es ist ein reines Füllsel, und dennoch genial platziert, weil es - mit Mallarmé gesagt - der "Musik in den Buchstaben" entspricht, dem Geist des Textes.

Bardamu, der vollkommen mit seinem text verwobene Erzähler, dessen Subjektivismus absolut ist, hetzt uns in einem irren Tempo durch diverse Episoden, die untereinander gar nicht oder nur locker verknüpft sind. Der Erzählstandort bleibt vage, grob dürfte er mit der Entstehungszeit übereinstimmen. Logistische Fragen interessieren nicht: Das spart Zeit, man liest das Buch entsprechend atemlos. Wir folgen Bardamu von New York aus nach Detroit, wo er kurz bei Ford schuftet (sehr kurz, denn die großherzige Hure Molly beschließt, ihn auszuhalten; vielleicht seine beste Zeit überhaupt, doch auch das macht den von vagen Mächten getriebenen Mann nicht glücklich). Dann geht es wieder zurück nach Europa, in einen schäbigen Pariser Vorort, wo Bardamu eine erhebliche Weile als Arzt der Ärmsten mehr vegetiert als lebt, denn er bringt es nicht über sich, Honorare zu kassieren; bis er schließlich dank seiner Freundschaft mit dem verkrachten Forscher und Witzbold Parapine in einer psychiatrischen Klinik für Angehörige der besseren Gesellschaft wirkt.

Man muss es einen Kunstgriff nennen, Bardamu als Armenarzt an jenem Elend teilhaben zu lassen, das er doch heilen soll: fast ein Teufelskreis, ein sich selbst generierender Kreislauf. Und dennoch entkommt Bardamu zum Schluss, indem er auf der sozialen Leiter emporklettert und Klinikleiter wird; insofern kann man einen Hauch von Bildungsroman ausmachen, den Ansatz einer Entwicklung, über die sich Bardamu jedoch bloß ins Fäustchen lacht.

Mit Bardamu hat Céline einen klassischen Antihelden geschaffen, einen, der nicht souverän ist, sondern im Unbewussten abtaucht wie in einer stinkenden Pfütze: ein Feigling, ein Getriebener, einer, dem seine Angst das höchste Gut ist. "Man kann gar nicht genug Angst haben." Rette sich, wer kann (das Leben).

Da Céline wie keiner vor ihm buchstäblich in die Falten der Armen kriecht und ihre fauligen Wunden beschnuppert, ist immer wieder die Frage aufgekommen, ob "Reise ans Ende der Nacht" ein "linkes" Buch sei. Trotzki, damals schon im Exil, hat sich für die "Reise" erwärmt und ihr eine ausführliche Kritik gewidmet, nicht ahnend, in welche Richtung Céline seinen Hass bald lenken würde. Im "Schreibheft" (Nr. 25, September 1985) geht Philippe Muray in einem Gespräch über "Das Jahrhundert Célines" diesem heiklen Zusammenhang nach - und wagt sich weit vor: "Ist es nicht das, was seine Zeitgenossen ihm nicht haben verzeihen können: dass er so gut auf sie gehört hat, doch allein in den Pamphleten? Und dass er andererseits die ,Reise' geschrieben hat, das heißt das Meisterwerk, von dem die Linke träumte, doch das unglücklicherweise nicht von einem ,linken' Schriftsteller hervorgebracht worden war?"

In der Tat, eine für die Linke politisch brauchbare Sicht auf die Armen entwirft Céline nicht; wenngleich er deren Ausbeutung korrekt anklagt, auch gegen das kapitalistische Amerika gibt es ein paar - stilistisch eher schwache - Ausfälle. Überwältigend dagegen: das kreatürliche Tableau, das den Menschen in seiner Animalität zeichnet, jenseits von Vernunft und Moral und Perfektibilität, jenem der Aufklärung so teuren Ideal. Die Céline'sche "Logik" der Armut spült kein sozialistisch verwertbares Heldentum an die Oberfläche, sondern Hunger, Hässlichkeit, Brutalität und Hass. In diesem Magma gedeiht nichts Gutes, und schon gar keine Revolution.

Am "Ende der Nacht", ein paar Zentimeter vor dem Tod beziehungsweise "auf der anderen Seite des Lebens", wie es in der mysteriösen Vorbemerkung zum Roman heißt, springt einen der Schauder an. Dessen humane Variante ist das Mitleid: Mitleid mit Bardamus sich unter Eiter krümmendem Pferd; Mitleid mit dem Nachbarsjungen Bébert, der quälend langsam an Typhus eingeht; Mitleid mit einem kleinen Mädchen, das von seinen Eltern grün und blau geprügelt wird, nur weil sie das brauchen, um es miteinander treiben zu können; Mitleid mit einer sinnenfreudigen jungen Frau, die an den Folgen ihrer x-ten Abtreibung vor Bardamus Augen verblutet, weil deren Eltern sich schämen, sie ins Krankenhaus zu bringen: gnadenloser, grausamer Anstand.

Andererseits: Dass Céline die "Reise" als vitaler, junger Mann schrieb, mit Anfang Dreißig, als er noch ein Frauenheld war, gut aussehend, keineswegs verbittert und körperlich verkommen wie nach dem Zweiten Weltkrieg (als er die ganze Welt gegen sich glaubte) - das merkt man dem Buch eben auch an. Denn neben den Wüsteneien eines illusionslosen Elends singt Bardamu in schöner Regelmäßigkeit das Hohelied des Geschlechtsverkehrs. Greif zu, wenn sich die Gelegenheit bietet, lautet seine bestechende Devise. Heißen sie Musyne, Lola, Molly, Sophie oder Madelon - sie alle sind Künstlerinnen in ihrem Fach und verstehen Bardamu kapitales Vergnügen zu bereiten. Es können daraus jedoch erhebliche Unannehmlichkeiten resultieren, bis hin zur totalen Eskalation, wie bei der eifersüchtigen Madelon, die Bardamus Freund Robinson erschießt.

Das Vitale, Übermütige, Rücksichtslose, das Anarchische der "Reise" findet ein Echo im Gestischen, im sprachlichen Erfindungsreichtum. Hinrich Schmidt-Henkel hat sich die Mühe gemacht, einige der prägnantesten Namen im Anhang aufzudröseln; Branledore, zum Beispiel, enthalte "branler" und "or" und heiße: Goldwichser. Ein wunderbar unpassender Name für einen schwer verwundeten Kriegsfreiwilligen, der das Krankenhaus mit seinem ebenso protzigen wie falschen Patriotismus zubrüllt.

Als seinen "Meister" bezeichnete Céline den Schriftsteller, Diplomaten und Snob Paul Morand, einer, der von Natur aus nichts ausließ - auch die Kollaboration nicht. Zu Céline würde er treu halten, wie Lucette Destouches in ihren Erinnerungen betont. Morand, befand Céline, habe als Erster die französische Sprache "verjazzt". Der Tanz, der Céline so sehr faszinierte, das Ballett und die Music Halls, all das schlägt sich nieder in seiner klangmalerischen, rhythmisierten, wenn man so will jazzigen Sprache, die nun endlich in ein elegantes und mutiges Deutsch gebracht wurde. Doch darf man nicht übersehen, dass "Reise ans Ende der Nacht" eher konventionell geschrieben ist im Vergleich zu den späteren Büchern Célines, in denen seine Sprache geradezu explodiert, wo nur noch Satzfetzen und Auslassungspunkte über die Seiten gejagt werden.

Brennenden Calvados auf der Zunge, könnte man lange Abende damit verbringen, sich über die rabelaisken Charakterfiguren der "Reise" auszutauschen. Denn - auch das gehört zu seiner "konventionellen" Seite - Céline ist trotz primärer Menschenfeindschaft ein großer Psychologe. Ob Pinçon und Grappa, deren militärischer Sadismus nichts zu wünschen übrig lässt; ob Bestombes, Parapine und Baryton, diese höchst kuriosen Mediziner; ob die gütige Molly oder der rührende Kolonialsoldat Alcide; ob Madame Henrouille, die ihre verrückte Schwiegermutter auf unseriöse Weise loswerden will, oder Madelon mit ihrer zähen, kriminellen Energie: alles lebensnahe, süffige Charaktere.

Doch einer, der wichtigste neben Bardamu, bleibt ein Rätsel: Robinson, Léon Robinson, um genau zu sein. Wie ein Schatten, ein Gespenst, ein unheimliches Alter ego scheint Robinson immer schon da zu sein - oder gerade schon weg ... Robinson klebt. Er drängt sich Bardamus Leben ziel sicher auf, dringt in es ein, saugt es aus, zerstört es fast. Wenn er ein Widerhall des Defoe'schen Robinson ist - einiges spricht dafür -, dann ein schwarzer.

Wäre man dann etwas beduselt, würden sich die Nervenbahnen glätten und man hätte die flüchtige Offenbarung: dass Robinson an Bardamu klebt wie der Vorwurf, sich niemals für seine verheerenden Irrtümer entschuldigt zu haben, an Céline kleben sollte bis über den Tod hinaus. Sein bürgerlicher Name: Destouches.

Titelbild

Lucette Destouches / Véronique Robert: Mein Leben mit Celine.
Übersetzt aus dem Französischen von Carina von Enzenberg.
Piper Verlag, München 2003.
127 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3492044204

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Titelbild

Louis-Ferdinand Céline: Reise ans Ende der Nacht. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2003.
671 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3498009265

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