Der Blues spielt da, wo unsere Liebe ist

Michael Zellers Roman "Die Reise nach Samosch" führt überall hin, nur nicht nach Samosch

Von Christoph JürgensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Jürgensen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Titel sind eine heikle Angelegenheit: Einerseits erwartet der Leser grundsätzlich von ihnen, dass sie Aufschluss über den Inhalt eines Buches geben, andererseits lädt gerade diese prinzipielle Kongruenzannahme die Autoren zu einem produktiven Spiel mit dem Erwartungshorizont des Lesers ein, so wie beispielsweise Umberto Eco für sein Romandebüt "Der Name der Rose" mit der Rose ein Symbol von vielfältiger Bedeutung auswählte und damit geradezu auf eine Verwirrung des Lesers zielte.

Ähnlich verwirrend ist auch der Titel des neuen Romans von Michael Zeller, "Die Reise nach Samosch". Wer bei diesem Titel nämlich einen klassischen Reiseroman mit einer Vielzahl von Impressionen aus dem heutigen Polen erwartet, wird enttäuscht. Der Name Samosch wird nach 200 Seiten zum ersten Mal erwähnt, die titelgebende Reise wird erst gegen Ende des Buches angetreten - und der Ort selbst dann schließlich nicht einmal erreicht. Und dennoch ist der Titel hier durchaus "Senfkorn des ganzen Gewächses", wie Johann Georg Hamann einmal bündig die Funktion von Titeln bezeichnet hat, nur eben auf etwas vertracktere Weise als gewöhnlich. Dass sich dieser Titel nur unter Umwegen als Schlüssel zum Sinn des Textes verstehen lässt, liegt darin begründet, dass er die Poetik des Romans in nuce abbildet, eine Poetik, die den direkten Weg zu ihrem Erzählziel strikt verweigert. Stellvertretend für diese Haltung findet sich im Text einmal die Anweisung an einen jungen Maler: "Diese geraden Linien, weißt du. Es gibt sie nicht in der Natur, nirgendwo. Jede Hand sträubt sich dagegen. Mit der Geraden ist das Unglück über den Menschen gekommen und die Welt. Mit der Geraden und dem rechten Winkel. Deine Zeichnungen werden viel besser, wenn du dein Lineal im Mäppchen steckenläßt."

In diesem Sinne verweigert sich auch Michael Zeller in "Die Reise nach Samosch" dem linearen Erzählen und lässt stattdessen in jedem der fünf Kapitel des Romans eine andere Stimme erklingen, die jeweils nur ihren Teil der Geschichte zu erzählen vermag. Daher weiß der Leser am Ende des Romans mehr über die Zusammenhänge als jede einzelne dieser Stimmen und kann die Einzelperspektiven schließlich zu einem Gesamtbild zusammenfügen, das sich folgendermaßen darstellt: Im Zentrum des Textes steht die Geschichte der Familie Anschütz, die über drei Generationen hinweg verfolgt wird. Der handlungschronologische Ausgangspunkt liegt im Zweiten Weltkrieg, zu Anfang der 40er Jahre. In ihrem Tagebuch erzählt die erst 16-jährige Schlesierin Erika von ihrer Liebe zu dem feinsinnigen und gebildeten Offizier Hellmut Anschütz und davon, wie diese Liebe scheitert - nicht zuletzt daran, dass Anschütz bereits verheiratet ist. Dass die beiden sich zeitlebens weder von dieser unerfüllten Liebe noch von den schrecklichen Ereignissen des Krieges lösen können, bildet das Kraftfeld des Romans, das alle weiteren Ereignisse in Gang setzt. Anschütz verlässt wegen seines Betruges nach dem Ende des Krieges Frau und Kind, heiratet später aber doch wieder, und zwar eine Frau aus Oppeln in Schlesien. Diese musste aus dem neu gegründeten Polen fliehen, da sie schwanger von einem polnischen Kommunisten war und ihren Eltern diese Schande ersparen wollte. Deren Kind adoptiert Anschütz nun und versucht, an dem fremden Kind kompensatorisch aufzuholen, was er am eigenen Sohn versäumt hat. Der Adoptivsohn Hans wird ein bekannter Zeichner, der mit seiner Vergangenheit und der Heimat seiner Mutter nichts zu tun haben will, ebenso wenig wie sein Vater, der wohl bei der SS war und nachts immer wieder schreiend aus Träumen aufwacht, aber nicht über sein Trauma redet. Ein Interesse an seiner Herkunft entwickelt Hans nicht einmal dann, als er von seinem wahren Vater, einem polnischen Zeichner erfährt, von dem er offensichtlich sein Talent geerbt hat - als zu stark wird hier das Bedürfnis der zweiten Generation vorgeführt, sich von den Eltern und ihrer Vergangenheit abzugrenzen.

Als wenn dieses Beziehungsgefüge noch nicht komplex genug wäre, enthüllen sich dem Leser nach und nach noch weitere Drehungen der Schraube in der Komposition des Romans: Der Galerist von Hans Anschütz mit Namen "KaDeWe" (in diesen Namen sollte übrigens nicht zuviel hineingeheimnist werden, er ist halt unheimlich geschäftstüchtig), ist nämlich der eigentliche Sohn von Hellmut Anschütz. Zudem war Hans' derzeitige Geliebte zuvor mit dem Maler Bernhard Rost zusammen, der ebenfalls von "KaDeWe" betreut wird. Dieser Rost berichtet in seinem Monolog zum einen von seiner ehemaligen Freundin und zum anderen von Gesprächen mit einem Mann, in dem der Leser schließlich den Witwer jener Erika erkennt, deren Tagebuch den Auftakt von "Die Reise nach Samosch" markiert. Wie man sieht, sind die Verhältnisse äußerst kompliziert. Alles hängt irgendwie mit allem zusammen.

Der Generation der Enkel bleibt es dann vorbehalten, unbefangen mit der traumatischen Vergangenheit der Familie umzugehen und sie dadurch zu überwinden. Als Sebastian Anschütz, der Sohn des berühmten Zeichners, von seiner polnischen Herkunft erfährt, tritt er die titelgebende Reise nach Samosch an, eine Reise in die Familienvergangenheit und damit zugleich in die deutsche Geschichte. Dieses zunächst eher historisch orientierte Ziel der Reise verblasst allerdings bald vor einem ganz privaten Ereignis: Er verliebt sich in die Polin Barbara, bleibt wegen ihr einige Zeit in Krakau hängen und wird ihr wohl schließlich nach New York in ein neues Leben folgen. Und hier erst, ganz am Ende präsentiert der Text seine zentrale Volte: Der angemessene Umgang mit der Geschichte liegt im Sinnzusammenhang des Romans nicht in der ständigen Orientierung an der schrecklichen Vergangenheit, sondern in einem offenen, ganz privaten und persönlichen Umgang der Menschen beider Völker miteinander. Knapp fasst Sebastian im Schlusssatz des Romans diese Erkenntnis zusammen: "Der Blues spielt da, wo unsere Liebe ist, wo sonst." Der Enkel Sebastian reist also nach Samosch, in die Vergangenheit, und kommt in der Gegenwart bei sich an.

Der Roman von Michael Zeller muss im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von anderen Texten gelesen werden, die sich jüngst ebenfalls der deutschen Vertreibung aus den Ostgebieten gewidmet haben, etwa Tanja Dückers "Himmelskörper", "Ein unsichtbares Land" von Stephan Wackwitz oder Reinhard Jirgls "Die Unvollendeten". Offensichtlich hat dieses Thema derzeit beträchtliche Konjunktur, wohl da der historische Abstand inzwischen einen unbefangeneren Blick auf die deutsche Geschichte erlaubt und es ein Bedürfnis gibt, nun auch den deutschen Schicksalen in den Wirren des Krieges nachzuforschen.

Das Besondere von Zellers Perspektive auf diese historische Dimension liegt eindeutig in dem gelungenen Kunstgriff, sein Familien- und Generationenpanorama der jüngeren deutschen Geschichte aus verschiedenen, jeweils eingeschränkten monologischen Perspektiven zu entfalten, was für eine nicht unerhebliche Spannung sowie für einen reizvollen Wechsel der Stil- und Redearten sorgt und überdies die Rede von einer historischen 'Wahrheit' ad absurdum führt. Das Spektrum der Ausdrucksweisen reicht dabei von den naiven Tagebuchnotaten Erikas, die den Leser mit einer Vielzahl von Plattitüden enerviert, über die "Offenbacher Babbelgosch" des Galeristen bis zur stilistischen Schnoddrigkeit und Coolness des Enkels. Es ist eine besondere Qualität des Textes, diese verschiedenen Stimmfarben weitgehend überzeugend durchgehalten und nicht der sicherlich großen Versuchung nachgegeben zu haben, die Figuren gelegentlich besser schreiben zu lassen, als dies plausibel wäre. Überdies hat Zeller ein ausgeprägtes Gespür für die Psychologie der Intimität und die Barrieren der Kommunikation zwischen fremden Sprachen, was sich beides markant in einer Liebesszene ausdrückt, in der Sebastian die auf ihm liegende Barbara zärtlich als "Käfer" bezeichnet und damit ein Wort benutzt, dass sie nicht kennt. Auch der Blick ins Wörterbuch kann das Missverständnis dann nicht aufklären, da sich dort als Übersetzung nur "Insekt" findet, was im Polnischen derartig negativ besetzt ist, dass Barbara das Liebesspiel verletzt abbricht.

Mancher Leser wird wohl gerne und mit Spannung Zeller auf seiner "Reise nach Samosch" begleiten, doch wird im Kontrast zu Jirgls schon erwähnter, ganz anders gelagerter Behandlung der Vertreibungsproblematik in "Die Unvollendeten" eine Schwäche des Textes deutlich: seine Sentimentalität. Pointiert ließe sich Zellers Roman als helles Gegenstück zu Jirgls finsterem Erzählmikrokosmos bezeichnen, das im Vergleich doch etwas blässlich aussieht. Während in Jirgls pessimistischer Diagnose die Vertreibung als generationenübergreifendes Stigma fortwirkt, die Vertriebenen also zeitlebens die Unvollendeten des Titels bleiben und die Gewalt zwischen den Menschen illustriert wird, sind Ausgangs- und Endpunkt des Generationenkonflikts bei Zeller wesentlich Liebeserlebnisse. Dass sich ein Trauma so einfach, nur durch die Kraft der Liebe lösen lässt, erscheint im zuvor aufgespannten historischen Rahmen nicht recht überzeugend. Dieser Einwand soll allerdings den grundsätzlich positiven Eindruck nicht schmälern - zumal die meisten Leser sich wahrscheinlich wesentlich lieber in den lichteren Gefilden Zellers als in den schwarzen Szenarios von Jirgl aufhalten.

Titelbild

Michael Zeller: Die Reise nach Samosch. Roman.
ars vivendi Verlag, Caldozburg 2003.
257 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3897163748

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