Dramatisch Schreiben - analytisch Denken

Lajos Egri lehrt "Dramatisches Schreiben"

Von Carolina GleichaufRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carolina Gleichauf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann man dramatisches Schreiben lernen? Ja, wenn man sich an klare Regeln hält.

Für Lajos Egri (1888-1967), der 35 Jahre in Europa und Amerika als Theaterautor und Regisseur tätig war und schließlich in Los Angeles als Lehrer und Berater in der Filmindustrie arbeitete, hat Schreiben nichts mit Genialität und Intuition zu tun. Gutes Schreiben baut auf Wissen, nicht auf Instinkt. Die seit Aristoteles immer wieder formulierten Regeln bezüglich Handlung, Charakter und Konfliktführung sind zu verstehen als praxisorientiertes Instrumentarium. Egri betrachtet sein inzwischen als Standartwerk geltendes und in 18 Sprachen übersetztes Werk als Anleitung für erfolgreiches Stückeschreiben. Er bedient sich des seit Aristoteles gebräuchlichen Begriffsinventar, setzt aber andere Schwerpunkte. Klassiker sowie zeitgenössische Stücke dienen ihm als Erklärungsbeispiel. Dabei geht er im Unterschied zu Aristoteles oder Gustav Freytag ("Die Technik des Dramas") über die reine Stückanalyse hinaus, indem er akribisch genau den Denkprozess des Schreibenden skizziert. Welche Informationen müssen über eine Figur vorhanden sein, um einen ausgereiften Charakter zu zeichnen, wann ist eine formulierte Prämisse geeignet, um die Basis für ein Stück zu bilden?

Die Reihenfolge der Arbeitsprozesse wird klar vorgegeben: Jedem Stück muss eine Prämisse zugrunde liegen, so etwa in Shakespeares "König Lear": "Blindes Vertrauen führt zur Vernichtung". Charakterentwicklung und Handlungsführung müssen sich auf die Prämisse ausrichten. Wird ein Stück langweilig, so hat der Autor den Blick auf die Prämisse aus den Augen verloren. Im Gegensatz zu Aristoteles stellt Egri die Bedeutung des Charakters vor die der Handlung. Während Aristoteles in seiner "Poetik" betont, dass eine Handlung auch ohne Charaktere bestehen könne, entwickelt Egri die Handlungslogik aus den klar formulierten Charakteren heraus. Nur weil Ibsens Nora gutgläubig und verspielt ist und aufgrund ihrer Gebundenheit an Heim und Kinder kein Kontakt zur Geschäftswelt hat, kann sie auf die Idee kommen, dass an einer Scheckfälschung nichts Verwerfliches sei. Nur weil sie aber auch launisch und unbändig ist, kann sie schließlich die Entscheidung treffen, Mann und Kinder zu verlassen. Ihre Charaktereigenschaften sind schon in der ersten Szene sichtbar. Ein Gedanke entwickelt sich aus dem anderen und führt logisch zu einer Handlungskette. Durch die Gebundenheit der einzelnen Handlungen aneinander kommt es sozusagen automatisch zum Konflikt, vorausgesetzt, wir haben es mit einander gegensätzlichen, willensstarken, in ihrer Physis, Psyche und gesellschaftlichen Prägung klar definierten Charakteren zu tun. Eine psychisch ausgeglichene, finanziell abgesicherte, von ihren Freunden geliebte Person kann nicht plötzlich einen Mord begehen. Die Motive müssen, wenn auch nicht eindeutig ersichtlich, in der Charakterzeichnung dialogisch auf andere Personen ausgerichtet sein.

Für Egri gibt es keinen Hauptkonflikt, weil schon ein Gespräch zwischen zwei Kontrahenten Konflikt ist und so einen Teil des Gesamtkonflikts darstellt. Damit verabschiedet er sich von Gustav Freytags etappenweisem Konfliktaufbau, der gebunden ist an sichtbare Drehpunkte innerhalb der ersten drei Akte. Ein sprunghafter Konflikt zeugt nach Egri von der mangelnden Qualität eines Stücks.

Seine Idee von einem gelungenen Stück ist stark geprägt von dem Anspruch, Spannung zu erzeugen. Ein Gespräch zwischen zwei Figuren darf nie nur dazu dienen, eine Situation zu schildern, einen Charakter zu veranschaulichen. Der erste Akt dient eben gerade nicht nur dazu, im aristotelischen Sinn die Figuren vorzustellen. Wir befinden uns gleich schon mitten im Konflikt, weil wir wissen, dass Noras Eigenschaft, Helmer zu belügen, wenn sie Bonbons nascht, etwas mit ihrer späteren Entscheidung zu tun hat, ihn zu verlassen. Das wiederum ist nur möglich, weil Helmer ganz anders ist als sie: ehrgeizig, ordentlich, rational - und sie deshalb nicht versteht. Die Figurenzeichnung ist also gekoppelt an ein konflikthaftes Gespräch, das Teil des Hauptkonflikts ist.

Ich würde behaupten, dass Egri mit seiner Analyse bestimmte Dramen außer Acht lässt. Es wird z. B. schwierig, eine innerlich gespaltene und eben nicht willensstarke kleistsche Figur in seinem ausgeklügelten Regelwerk zu verorten. So wenig eine kleistsche Penthesilea sich ihrer selbst gewiss ist, so wenig führt auch ihr Gespräch mit Achill zur Klärung ihrer Zukunft. Die Stärke der kleistschen Figuren liegt gerade in ihrer Unsicherheit. Penthesilea weiß Liebesbisse und Kampfwaffen nicht mehr zu unterscheiden und zerfleischt so ihren Geliebten. Die Spannung zwischen Identität und Nicht-Identität treibt die Handlung und Konfliktführung voran. Kleistsche Figuren lassen sich nicht in ein Schema pressen, dem eine eindeutige Prämisse zugrunde liegt. Was für "Romeo und Julia" leichter funktionieren mag, dem roten Faden zu folgen: große Liebe trotzt auch dem Tod, wird für Kleist schwierig, da herkömmliche Vorstellungen von Liebe, Hass, Glaube etc. in Frage gestellt bzw. diskutiert werden. Der Reiz eines Gespräches liegt gerade nicht im schreitenden logischen Wandel, sondern in der Stagnation, der Reflexion eines statischen Problems, das sprachlich umkreist wird. Wie kann man eine klare Prämisse wie "Zu große Machtgier führt zur Selbstzerstörung" formulieren, wenn gerade Machtstrukturen verhandelt werden?

Egris Kritik richtet sich gegen Stücke mit unersichtlichen Gesprächsverläufen und sprunghaften Konflikten. Zum Beispiel bemängelt er die seiner Meinung nach charakterlich zu wenig dominanten und daher als Kontrahenten ungeeigneten Nebenfiguren in Molières "Tartuffe". Dabei argumentiert er sehr unhistorisch, denn Molière zeichnet Typen, die keiner Charakterentwicklung bedürfen, weil sie bewusst überzeichnet sind und damit entlarvt werden. Eine psychologische Entwicklung, oder mit dem Vokabular des 17. Jahrhunderts gesprochen, eine logische Anordnung von Affekten ist nicht gefragt. Molière folgt der Aristotelestradition, die die Vorrangstellung der Aktion betont.

Egri lässt die historische und philosophische Dimension von Stücken außer Acht. Er eignet sich gut für die erste dramaturgische Bearbeitung eines Stücks und öffnet die Augen für wesentliche strukturelle Merkmale, die womöglich im philosophischen Diskurs verloren gehen. Dramaturgie ist tatsächlich zunächst Handwerk, und Egris Analyse mag angehenden Dramaturgen ans Herz gelegt sein. Bei einer literaturwissenschaftlichen oder philosophischen Herangehensweise bleibt die technisch-pragmatische Seite oft unbeachtet.

Zeitgenössische situative Dramatik, mit der wir es im Moment an deutschen Bühnen viel zu tun haben, kann mit Egris Raster nicht erfasst werden, aber es wäre interessant zu erfahren, was er wohl zu einer monologisierenden, seine psychischen Verzweiflung ausspuckenden Figur einer Sara Kane gesagt hätte. Aber auch frühere Figuren wie die des absurden Theaters bleiben mit Egri auf der Strecke. Nach seien Vorstellungen von Theater wäre Godot sicher schon in der ersten Szene aufgetaucht, um dem trostlosen Warten ein Ende zu bereiten.

Titelbild

Lajos Egri: Dramatisches Schreiben. Theater - Film - Roman.
Autorenhaus-Verlag Manfred Plinke, Berlin 2003.
345 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3932909585

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