Storia e memoria

Jacques Le Goffs grundlegenden Beiträge zur Historischen Anthropologie sind als Taschenbuch erschienen

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1977 erschien die italienische Originalausgabe unter dem schönen Titel "Storia e Memoria", 1986 die französische und 1992 die deutsche Ausgabe. Sie ist jetzt auch als Taschenbuch zu haben. Diese Zusammenstellung von zehn Lexikonartikeln gehört inzwischen zu den kanonischen Schriften der neueren Geschichtsschreibung. Jacques Le Goff selbst ordnet sie der Historischen Anthropologie zu. Es geht, wie die Überschriften der vier Kapitel lauten, um die Gegensätze von "Vergangenheit/Gegenwart" und "Antik/Modern", um "Erinnerung" und um "Geschichte".

Das in seinem spröden und nüchternen Stil zwar nicht gerade mitreißende, aber durch seine durchgehende Klarheit und allgemeine Verständlichkeit beeindruckende Buch ist auch zur Einführung in die historischen Wissenschaften bestens geeignet. Nicht nur, weil es grundsätzliche Probleme und Themen der Historiographie reflektiert, sondern auch, weil es zu interdisziplinären Sichtweisen anleitet. So setzen beispielsweise die Ausführungen über den kulturellen Umgang mit dem Gegensatz von Vergangenheit und Gegenwart mit Hinweisen auf die Psychologie und Psychopathologie des Zeitgefühls ein. Sie fahren mit linguistischen Hinweisen auf die Tempussysteme in verschiedenen Sprachen fort und schließen daran ethnologische Beobachtungen zum "wilden Denken" an. Wo Le Goff von "Erinnerung" handelt, geht er selbstverständlich auch auf psychoanalytische Theorien ein. Und diese kritisiert er wiederum mit kognitionspsychologischen Argumenten. Nach Freud sei die Psyche "beherrscht von unbewußten Erinnerungen, von der vergessenen Geschichte des Individuums und vor allem von der entferntesten Vergangenheit, derjenigen der frühesten Kindheit." Während jedoch die Psychoanalyse vielfach noch an dem Anspruch festhalte, unter den späteren Entstellungen und Verdrängungen frühkindlicher Szenen eine authentische Vergangenheit freizulegen, insistiert Le Goff unter Berufung auf Piaget darauf, dass die erinnerte Vergangenheit immer "eine rekonstruierte" sei.

Le Goff ist sich der Grenzen von Vergleichen zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis bewußt, scheut sich jedoch nicht, Erkenntnisse auch der Psychophysiologie und Neurophysiologie für das Verständnis kultureller Phänomene und historiographischen Selbstverständnisses fruchtbar zu machen. Das reicht bis hin zu Parallelen in der individuellen und kollektiven Pathologie: "Ebenso wie [...] die Amnesie nicht nur eine Störung des Individuums darstellt, sondern mehr oder weniger schwere Erschütterungen der Persönlichkeit mit sich bringt, kann das Fehlen sowie der absichtliche oder unfreiwillige Verlust der kollektiven Erinnerung bei Völkern und Nationen zu schweren Erschütterungen der kollektiven Identität führen."

Das Kapitel "Erinnerung" gehört zu den Glanzstücken des Buches. Es nimmt viel von dem vorweg, was hierzulande erst in den neunziger Jahren über das "kulturelle Gedächtnis" veröffentlicht wurde. Der kulturgeschichtliche Horizont umfaßt Gesellschaften, die noch ohne das Speichermedium Schrift wirksame Techniken und Rituale der Erinnerung ausbildeten, solche, die durch Übergänge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt sind, bis hin zu den neuzeitlichen Optimierungen der Speichertechniken durch den Buchdruck und die elektronische Informationsverarbeitung.

In die Erinnerungsarbeit investierten Kulturen seit jeher erhebliche Energien, nicht zuletzt die der Kulturwissenschaften. Auch deren Bemühungen um Überlieferung von Vergangenem sind, wie Le Goff wiederholt hervorhebt, involviert in soziale Kämpfe um Macht. Vor allem die Psychoanalyse habe "mit Nachdruck auf die bewußten und unbewußten Manipulationen verwiesen, die Interessen, Gefühle, Hemmungen und äußere Zensur an der individuellen Erinnerung vornehmen." Solche Einsichten lassen sich auf die "kollektive Erinnerung" übertragen. Sie war "stets ein bedeutender Streitpunkt im Kampf der sozialen Kräfte um die Macht. Herr über Erinnern und Vergessen zu werden ist eine der großen Bestrebungen von Klassen, Gruppen und Individuen, die historische Gesellschaften beherrschten und beherrschen." Le Goff zieht daraus den Schluß, Kulturwissenschaftler hätten daran mitzuwirken, "daß die kollektive Erinnerung der Befreiung und nicht der Unterwerfung von Menschen dient." Von solchen Impulsen einer kritischen Geschichtstheorie ist in den deutschen Forschungen der neunziger Jahre, die, eher harmonisierend und an vormodernen Gesellschaften orientiert, die sozialintegrative und identitätstiftende Funktion der kollektiven Erinnerung hervorheben, kaum noch etwas zu bemerken.

Titelbild

Jacques Le Goff: Geschichte und Gedächtnis. Aus dem Französischen von von Elisabeth Hartfelder.
Ullstein Verlag, Berlin 1999.
308 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3548265529

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