Die Tyrannei der Kunst oder Die Wurzeln liegen im Finsteren

Die Romantikvorlesungen von Isaiah Berlin aus den Sechzigerjahren

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fast wäre der vorliegende Band nicht erschienen. Der Herausgeber Henry Hardy formuliert es in den einleitenden Vorbemerkungen so: "Berlin selbst verweigerte Zeit seines Lebens standhaft die Veröffentlichung dieses Manuskripts, und dies nicht nur, weil er bis in seine letzten Lebensjahre hinein immer noch hoffte, das 'eigentliche' Buch [über die Romantik, Anm. d. V.] zu schreiben, sondern vielleicht auch deswegen, weil er es für eitel hielt, einfach eine Abschrift frei gehaltener Vorlesungen zu publizieren, ohne sich dabei der Mühe einer Überarbeitung und Erweiterung zu unterziehen." Dass der Herausgeber sich über den Wunsch zu Lebzeiten nicht hinwegsetzen konnte, ist selbstverständlich, und dass man die Vorlesungen veröffentlicht hat, ist mehr als erfreulich. So stellt sich die Frage, ob die Publikation von Vorlesungen sinnvoll ist oder nicht, an dieser Stelle nicht.

Die biographischen Daten des Autors sind bekannt. Isaiah Berlin wurde 1909 in Riga geboren, ging 1915 mit seiner Familie zusammen nach Russland und emigrierte von dort 1921 nach England. In Oxford lehrte er Philosophie und beschäftigte sich vor allem mit Studien zur Ideengeschichte. Berlin starb 1997.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um Abschriften von Vorlesungen zur "Romantik", nicht an der Universität gehalten, sondern an ein breiteres Publikum gerichtet: "Die hier schriftlich veröffentlichten Vorlesungen wurden als Mitschnitt von der BBC auf ihrem dritten Programmen im August und September 1966 und zum zweiten Mal im Oktober und November 1967 ausgestrahlt. Nochmals gesendet wurden sie 1975 in Australien und innerhalb Großbritanniens dann 1989 auf BBC Radio 3, in dem Jahr also, da Berlin achtzig Jahre alt wurde."

Was ist nun unter diesem allgemeinen Begriff "Romantik" bei Berlin zu verstehen? Wie kreist der Verfasser sein Thema ein? Ist es "nur" die literarische Romantik, beschränkt er seine Erörterungen auf einen bestimmten Personenkreis? In dem in sechs Abschnitte gegliederten Vortrag, dem man auf erfrischende Weise Berlins belebenden sprachlichen Duktus anmerkt - wie man ihn auf der der englischen Ausgabe beiliegenden CD nachvollziehen kann -, der auch in der Übersetzung von Burkhardt Wolf nicht verloren gegangen ist, umgeht der Autor die Definition seines Gegenstandes zu Beginn seines Vortrags geschickt. Allgemeine Aussagen meist verwerfend, lässt er sich aber doch zu einer vagen Einschätzung herab: "Die Bedeutung der Romantik gründet sich auf die Tatsache, dass sie die umfassendste aller Bewegungen ist, die in der jüngeren Vergangenheit Lebensweise und Denken der westlichen Welt umgestaltet haben." Mit einer Abfolge von Definitionsversuchen verschiedener Repräsentanten der Geistesgeschichte versucht er sich dem Phänomen "Romantik" zu nähern. Dabei ist es immer ein gesamteuropäischer Blick, über den er "Romantik" einzugrenzen versucht. Und es ist auch seine Charakterisierung der Aufklärung als "Gegenpol" oder "Vorläufer" des romantischen Geistes, der zu einem interessanten Lesevergnügen wird. Zusammenfassend heißt es über die zentralen Positionen der "Romantik": "Sie [die sogenannten Romantiker, Anm. d. V.] hätten festgestellt, dass nach deren Überzeugung Minderheiten heiliger sind als Mehrheiten und Scheitern edler ist als Erfolg, was schon damals ein wenig kitschig und vulgär wirkte. Gerade dieser Idealismus, nicht im philosophischen, sondern in dem gewöhnlichen Sinne, wie wir ihn heute verstehen, mithin diese Geisteshaltung eines Menschen, der für gewisse Grundsätze oder eine bestimmte Überzeugung eine Menge zu opfern bereit ist, der nicht gewillt ist, sich bestechen zu lassen, sondern für etwas, woran er glaubt, eben weil er daran glaubt, alles aufs Spiel setzen würde - diese Haltung war seinerzeit ziemlich neuartig. Was diese Leute bewunderten, war Rückhaltlosigkeit, Aufrichtigkeit, Reinheit der Seele, die Fähigkeit und Bereitschaft, sich seinem Ideal hinzugeben, ganz gleich, wie dieses letztlich aussah."

Berlin gelingt es, den Leser auf eine Reise zu dem Phänomen "Romantik" mitzunehmen. Zwar sind es hier und da einige Merkwürdigkeiten, die einem begegnen - etwa die Heranziehung von Joseph Nadler als Autorität für die Romantik - aber es sind durchweg immer originelle Blicke, die dem Leser auf einen - wenn auch schon hinlänglich bekannten - Gegenstand gewährt werden. So etwa auch die Position, die Johann Georg Hamann eingeräumt wird und den er mit seiner für eine spätere romantische Lebenshaltung fundamentalen Einstellung als eine der wesentlichen "Wurzeln der Romantik" sieht: "Was sie [die allgemeinen Aussagen, Anm. d. Verf.] ihrer Allgemeinheit wegen notwendigerweise unbeachtet lassen müssen, ist das Einzigartige, das Besondere, die spezifische Eigenheit dieses einen Menschen oder dieses einen Gegenstands. Und laut Hamann ist nur das von Interesse." Und auch die Beschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts, über die vorromantischen Verhältnisse in Deutschland, nehmen den Leser auf eine ungewöhnliche, vielleicht sogar humorige Art für den Autor ein: "In Deutschland sorgte dies [die Vorherrschaft Frankreichs, Anm. d. V.] für ein dauerhaftes Gefühl der Niedergeschlagenheit und Erniedrigung, dem man in der ziemlich trübseligen deutschen Balladendichtung und in der Volksliteratur am Ende des 17. Jahrhunderts überall begegnet, ja sogar in den Künsten, in denen sich die Deutschen auszeichnen konnten - selbst in der Musik, die zunehmend häuslich, religiös, leidenschaftlich und introvertiert ist und sich somit vor allem von der schillernden höfischen Kunst und von der säkularen Virtuosität etwa eines Rameau und Couperin unterscheidet."

Die Essenz des Buches wird in einer kurzen Sequenz über Schlegel deutlich: "Friedrich Schlegel, der größte Vorbote, der größte Herold und Prophet der Romantik, der jemals gelebt hat, sagt, im Menschen gebe es eine erschreckend unerfüllte Sehnsucht, sich ins Unendliche emporzuschwingen, ein fieberhaftes Verlangen, die engen Fesseln der Individualität zu sprengen." Es handelt sich um eine Zusammenstellung wichtiger, interessanter und brillianter Spuren der Romantik, die spannendsten Gedankenläufe, die bestens zusammengestellten Assoziationsketten und die treffendst formulierten Ergebnisse. So findet man die Romantik auf ungefähr 250 Seiten als "längeres Gedankenspiel" - ob man das Fazit auf der letzten Seite mit dem Autor teilen möchte oder weiterdenkend in Frage stellt bleibt dem Leser überlassen - und tritt hinter der Darstellung weit zurück: "Somit ist der Romantik letzter Schluss Liberalität, Toleranz, Anständigkeit und die Anerkennung aller Unvollkommenheiten des Lebens - in gewissem Sinne ein vernünftigeres Verständnis seiner selbst." Und allein schon diese Schlussbehauptung sollte den Leser veranlassen zu überprüfen, wie Berlin in der Entwicklung seiner Gedanken und über welche Zwischenschritte er zu diesem abschließenden Fazit gekommen ist.

Ein vielleicht ironisches, im Text von Berlin auch so gebrauchtes Zitat von Arthur Quiller-Couch soll dem Leser zum Geleit mit auf den Weg gegeben werden. "Das ganze Theater [den Unterschied zwischen Klassik und Romantik] ist am Ende nichts, was einen gesunden Menschen beunruhigen müsste." Die entspannte Gelassenheit der Plauderei über den Gegenstand ist von einer britischen Nonchalance getragen, der sich ein Leser kaum entziehen können. Und wenn das Buch auch nicht als Einführung in die literarische oder europäische "Romantik" geeignet ist, so bietet es doch für einen viel größeren Leserkreis als die Romantik-Interessierten eine überraschend kurzweilige Lektüre.

Titelbild

Henry Hardy: Isaiah Berlin Die Wurzeln der Romantik.
Übersetzt aus dem Englischen von Burkhardt Wolf.
Berlin Verlag, Berlin 2004.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3827001420

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