Jugendliche finden Gott und das Heil in der Disco

Religion und Kultur in einer pluralistischen Gesellschaft

Von Ursula HomannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Homann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Theologie des 20. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch Begriffe wie "Offenbarung", "Glaube" oder "Geschichte" sowie durch eine bestimmte Sicht der Religion, und zwar als Gegensatz zur Kultur. War man doch der Ansicht, wie Ernst Troeltsch es einmal formuliert hat: "Die Größe der Religion besteht gerade in ihrem Kulturgegensatz". In den Diskursen der Gegenwart jedoch hat sich, im Zusammenhang mit einer konzeptionellen Wende zur Kultur in den Sozial- und Geisteswissenschaften, inzwischen die anthropologische Position durchgesetzt, wonach Religion ein Teil der Kultur ist. Begleitet wird dieser "cultural turn" von einer allgemeinen "Rückkehr der Religionen" - manche sprechen auch von einer "Wiederverzauberung der Welt" -, nachdem sich offensichtlich die Prophezeiung, in einer säkularen Moderne würden Wissenschaft und Vernunft zunehmen und der "irrationale" Glaube abnehmen, nicht erfüllt hat. Heute wird Religion erneut geschätzt, nicht zuletzt als Ort von Orientierung, von guter Erfahrung und als Ort der Entdeckung neuer spiritueller Möglichkeiten. Ihre prägende Kraft hat allem Anschein auch Jürgen Habermas erkannt und zum Erstaunen vieler Zeitgenossen bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 2001 deutlich hervorgehoben.

Religion und Kultur sind mithin wieder im diskursiven Gespräch - zwei Begriffe, deren Verknüpfung einst das explizite Programm des deutschen Kulturprotestantismus war, in dem die Ansicht vorherrschte, dass, auch wenn die moderne Welt eigenen Gesetzen folgt, die Religion auf die verweltlichte Kultur Einfluss nehmen müsse.

Wie aber lässt sich gegenwärtig das Verhältnis von Kultur und Religion unter der Voraussetzung eines modernen Religions- und Kulturbegriffs näher bestimmen? Diese Frage stand auf der Tagesordnung einer Ringvorlesung an der Augustana-Hochschule. Die seinerzeit zum Thema "Religion und Kultur" aus verschiedenen Perspektiven und unter differierenden Frage- und Problemstellungen vorgetragenen Referate liegen jetzt gedruckt im 4. Band der "Theologischen Akzente" vor und stehen damit auch, wie der Herausgeber Wolfgang Stegemann in der Einleitung betont, einem größeren Publikum zur Verfügung. Allerdings drängt sich bei der Lektüre der manchmal etwas sperrig zu lesenden Beiträge hin und wieder der Eindruck auf, dass sich der Band in erster Linie an "Insider" richtet, die die hier nicht näher vorgestellten Autoren kennen und mit deren Ansichten und den allgemeinen Diskussionen über Religion und Kultur wohl vertraut sind.

Im ersten Beitrag erörtert Christian Strecker die Herausforderungen des augenblicklichen "cultural turn" für die neutestamentliche Exegese, im Bewusstsein, dass die eigene Position jederzeit überholt werden kann.

Etwas konkreter wird Wolfgang Stegemann in seinem Aufsatz "Religion als kulturelles Konzept", das er als "eine kulturelle Hervorbringung der Christentumsgeschichte" skizziert. Zunächst beleuchtet er ältere Positionen, wie die von Adolf von Harnack, Friedrich Gogarten, Karl Barth und Rudolf Bultmann, und legt dar, dass beispielsweise Bultmann, schockiert von den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, als Ausweg aus der damaligen Kulturkatastrophe eine Neubesinnung auf die Religion gefordert habe. Bultmann habe die Kulturbedeutung der Religion durchaus positiv eingeschätzt, aber dennoch geglaubt, dass der christliche Glaube seinem Wesen nach etwas völlig anderes sei als die Kultur. Stegemann zitiert Texte von Schiller und Lichtenberg, in denen, ähnlich wie bei Kant, ein Ungenügen an der vorfindbaren, empirischen Repräsentation von Religion zum Ausdruck kommt, wohl wissend, dass die Klage über die Dichotomie zwischen dem Ideal des Christentums und seiner empirischen Verwirklichung seit langem sowohl zum Inventar der Christentumskritik wie auch zur christlichen Apologie gehört. Gleichwohl können wir, allem Anschein nach, auch weiterhin auf Religion als Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren nicht verzichten, meint Stegemann und fügt hinzu, Religion habe als ein eigenständiger Bereich menschlicher Erfahrung vor allem die Aufgabe der Kontingenzbewältigung.

Peter L. Oesterreich weist in seinem Beitrag "Die Erfindung der religiösen Wirklichkeit" darauf hin, dass die Religion inmitten der geschichtlichen Wirklichkeit als realexistierende Glaubensgemeinschaft und, institutionell verfasst, als Kirche vorgefunden werde. So gesehen sei Religion nicht primär ein Phänomen der subjektiven Innerlichkeit. Vielmehr erweise sich ihre religiöse Wirklichkeit als ein objektives und interpersonales Grundphänomen menschlicher Kultur und Lebenswelt, das neben der Politik und der Wirtschaft zu den großen formenden Mächten gehört, die die Realgeschichte der Menschheit bis heute bewegen. Oesterreich vertritt die These, dass "die Wirklichkeit religiöser Interpersonalität primär rhetorisch konstituiert ist" und beruft sich dabei auf prominente Zeugen der europäischen Philosophie- und Theologiegeschichte wie Augustinus, Thomas von Aquin und Luther. Mittlerweile habe die gegenwärtige Renaissance des rhetorischen Denkens zu einer Neuentdeckung der klassischen Autoren der Philosophie- und Theologiegeschichte geführt. Die rhetorische Konstituierung der Wirklichkeit religiöser Interpersonalität sei folglich kein völlig neuer Ansatz, sondern mache nur eine alte, aber weitgehend vergessene Wahrheit in zeitgemäßer Form wieder geltend.

Wolfgang Sommer gibt in seinem Beitrag "Kontinuität und Diskontinuität im Verhältnis des deutschen Protestantismus zur säkularen Kultur seit Schleiermacher" einen Überblick über die Außenbeziehungen des Christentums in seiner protestantischen Ausprägung während der letzten beiden Jahrhunderte. Die Geschichte des Nachkriegsprotestantismus im westlichen Deutschland, hebt er hervor, sei eine neue kulturprotestantische Periode gewesen, die sich für den Aufbau eines demokratischen Staates, für die Gesellschaft wie für die Kirche günstig ausgewirkt habe. Heute beklagten wir allerdings Mitgliederschwund in den Kirchen. Weltanschaulich-religiöser Pluralismus sowie fortschreitende Ökonomisierung aller Lebensbereiche machten es christlichen Positionen schwer, in der Meinungsvielfalt überhaupt noch Gehör zu finden. Ein wichtiger Aktivposten des gegenwärtigen Protestantismus sei indes die vielfältige Arbeit in den evangelischen Akademien, in der Diakonie sowie im Erziehungs- und Bildungsbereich mit Kindergärten und Schulen. Das allein genügt dem Autor offensichtlich nicht. Heißt doch der Ursinn des Begriffs "Protestantismus" nach wie vor, "Zeugnis abzulegen für die Wahrheit des Evangeliums vor Gott und der Welt."

Helmut Utzschneider wiederum äußert sich zum Kulturverständnis in urgeschichtlichen Texten des Alten Testaments, in denen die menschliche Kultur als ein unaufhörliches Paradoxon verstanden werde, wonach der Mensch von sich aus der Grundspannung von spielerischer Freiheit und Regularität, die jede Kulturexistenz bestimmt, nicht gewachsen sei. Doch gehört zum biblisch-alttestamentlichen Verständnis von Kultur das Bewusstsein der Unverfügbarkeit ihrer Grundlagen und ihres Bestandes. Denn gerade in der biblischen Kulturtheorie ist die Kultur kein menschliches Produkt, sondern göttliche Segensgabe über und gegen alles menschliche Vermögen.

Joachim Track setzt sich in seinem Beitrag "Kampf der Religionen" mit dem Gewalt- und Friedenspotential der Religionen auseinander, beginnend mit dem Geschehen am 11. September 2001. Hier sei offenkundig geworden, dass politische Auseinandersetzungen auch mit Hilfe terroristischer Gewalt geführt werden, die fundamentalistische Strömungen des Islam als Kampf der Kulturen interpretieren und religiös begründen und gerechtfertigen. Die Antwort des amerikanischen Präsidenten habe in ihren Begründungen für den Krieg gegen den Terrorismus, gegen die "Achse des Bösen", ebenfalls religiöse Implikationen. Ein Relikt vergangener Zeit, nämlich die religiöse Verbrämung politischer und sozialer Konflikte kehrt offensichtlich nun zurück, nicht nur bei den Fundamentalisten im Islam, sondern auch in anderen Religionen. Wird es zu einem Kampf der Kulturen und Religionen kommen, fragt der Verfasser besorgt und überlegt weiter, was Religionen, das Christentum inbegriffen, gewaltanfällig und gewalttätig macht? Ist es der Anspruch auf Unbedingtheit und Hingabe? Track tröstet sich und seine Leser mit dem Gedanken, dass das Friedenspotential der Religionen nicht selten gerade an dem Ort erwächst, an dem auch das Gewaltpotential der Religionen entsteht. Schließlich sei der uns zugewandte Gott auch eine Gestalt des bedingungslosen Angebots der Versöhnung.

Wie sich theologische Frauenforschung, feministische Theologie und Gender Studies zum Thema Religion und Kultur verhalten, zeigt Renate Jost am Beispiel der Opferung der Tochter Jephtas aus dem alttestamentlicher Buch der Richter. Sie stellt verschiedene Auslegungen des Textes vor und erinnert anhand zweier moderner Kreuzesdarstellungen - die eine weist auf die Ermordung einer Frau hin, die andere zeigt kopflose nackte Frauenkörper in verschiedenen Positionen - an die Leiden unzähliger Frauen in Vergangenheit und Gegenwart. Renate Jost appelliert an die unterschiedlichen Disziplinen der theologischen Wissenschaft, endlich das zu tun, was im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich und inzwischen auch in der Kirche begonnen hat, "der Frage nachzugehen, inwieweit sie durch religiöse Aussagen Gewalt unterstützt und welche Vorstellungen dazu beitragen können, sie zu vermindern." Wichtig sei ferner, "schon bei den kleinen Mädchen girliepower, d.h.Selbstbewusstsein und Stärke zu vermitteln."

Welche Probleme in einer pluralistischen Gesellschaft, insbesondere die Pluralität von religiösen Wahrheitsansprüchen und Kontingenzbewältigungen, für jede religiöse Tradition mit sich bringt, da durch die Begegnung mit anderen Religionen die eigene in Frage gestellt werden kann, das zeigt Andreas Nehring seinem Beitrag "Amida-Buddha und Christus?" Auch Karl F. Grimmer steuert in "Gott in multikultureller Gesellschaft" wertvolle Erwägungen zur Erfahrungen Gottes im religiösen Pluralismus bei.

Unsere Gesellschaft ist, laut Grimmer, durch eine Vielzahl von Kulturen, Subkulturen, Regionalkulturen wie Jugendkultur, Sprachkultur, Esskultur und dergleichen gekennzeichnet. Die Kultur unserer Gesellschaft besteht also aus einer Pluralität von Kulturen. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der Religion. Denn eine multikulturelle Gesellschaft ist auch immer eine multireligiöse Gesellschaft. Dementsprechend gibt es auch unterschiedliche Meinungen über Gott, Kirche und Theologie. In allen Bereichen der Kultur kann Gott zum Thema werden. Ist doch die Rede von Gott in einer multikulturellen Gesellschaft so pluralistisch wie die Gesellschaft multireligiös ist. Zudem hat sich in unserer Mediengesellschaft eine eigene Medienreligion herausgebildet. Diese ist ein diffuses Gebilde und eine Bilderreligion, die überwiegend dem Hedonismus frönt. Allwöchentlich werden Jugendliche in Diskotheken in eine, dem Alltag gänzlich enthobene Welt versetzt. In manchen Songs, wie etwa in dem mit dem Titel "God Is A DJ", wird ein Erlebnis angesprochen, das einen religiösen Charakter hat. Jugendliche finden somit Gott und das Heil in erster Linie in der Disco finden.

Bei anderen Menschen können dagegen beim Konzertbesuch, Museumsbesuch, beim Besuch eines Fussballstadions, beim extensiven Joggen im Wald oder in anderen Zusammenhängen Gefühle des Erhabenen hervorgerufen werden, Eindrücke, die eine Ahnung von Transzendenz vermitteln, Glücksempfindungen und sogenannte Flow-Erlebnisse. In nahezu allen kulturellen Bereichen tauchen in einer multikulturellen Gesellschaft religiöse Momente auf, schreibt Grimmer, womit die These von der generellen Verknüpfung von Kultur und Religion bestätigt werde.

Einige Autoren wie Dieter Becker fragen bei dem Thema "Kultur und Gewalt" nach dem Sinn blutiger Spiele in Antike und Gegenwart, oder befassen sich wie Peter Nash mit den "ersten Verehrern der Götter" in Afrika, alten Mythologien und anderswo, oder wie Oneide Bobsin mit dem "Geister-Schmuggel an den religiösen Grenzen", während Lieselotte Lindner unter der Frage "Avantgarde oder kirchliche Subkultur?" evangelische Schwesternschaften auf der Suche nach Wegen in die Zukunft ausgemacht hat.

Insgesamt ein vielseitiger Band, aus dem auch Nichttheologen, wenn sie bereit sind, einige Denk- und Leseanstrengungen auf sich zu nehmen, durchaus Gewinn schöpfen können.

Titelbild

Wolfgang Stegemann (Hg.): Religion und Kultur. Aufbruch in eine neue Beziehung.
Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2003.
256 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 317017567X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch